Flucht in die Abstraktion

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (10.12.2013)

Fidelio, 08.12.2013, Zürich

In ihrer ersten gemeinsamen Produktion zeigen Andreas Homoki und Fabio Luisi am Opernhaus Zürich Beethovens «Fidelio» mit musikalischen Eingriffen, aber ohne Requisiten, ohne Rezitative, ohne Verortung und fast ohne Deutung. 


Ist das, was hier gespielt wird, tatsächlich «Fidelio»? Zu Beginn der Premiere im Opernhaus Zürich dirigiert Fabio Luisi nicht etwa die bekannte Ouvertüre in E-Dur, sondern wir werden gleich in die Schlüsselszene des zweiten Akts versetzt, wo Leonore die Ermordung ihres Gatten Florestan durch Pizarro verhindert, indem sie sich todesmutig dazwischen stellt. Im Handgemenge löst sich ein Schuss, Leonore wird getroffen und sinkt in den Armen Florestans leblos zu Boden. In dem Moment erklingt die berühmte Fanfare, die das befreiende Erscheinen des Ministers ankündigt. Darauf folgt, musikalisch durchaus passend, der Schluss der dritten Leonore-Ouvertüre, die Ludwig van Beethoven nicht für die Endfassung, sondern für die zweite Fassung von 1806 komponiert hatte.

Danach beginnt die Oper mit der Arie der Marzelline, die in der Endfassung erst an zweiter Stelle steht. Szenisch dient sie dazu, dass Marzelline die wieder lebendig gewordene Leonore in Männerkleider steckt und nun als Fidelio in ein Objekt ihrer Liebe verwandelt. Nach dem Duett zwischen Marzelline und dem Pförtner Jaquino, der ihr nachstellt, folgt das Quartett der drei Bisherigen mit Rocco, Marzellines Vater und Vorsteher des Staatsgefängnisses. Da jedoch der vorhergehende Dialog wegfällt, ist Rocco noch nicht eingeführt und kommt dann, wenn er im Kanon-Quartett an der Reihe ist, ganz unmotiviert durch eine Seitentüre auf die Bühne.

Das Gegenteil von Ausstattung

Mit den gesprochenen Dialogen haben die meisten Regisseure ihre liebe Mühe. Die einen lösen das Problem durch Kürzungen, die anderen durch radikale Neufassungen. Andreas Homoki geht einen dritten Weg: Er lässt die Dialoge einfach weg. An gewissen Stellen funktioniert das prima, aber andernorts fehlt dann einfach der Zusammenhang. Dort behilft sich der Regisseur damit, dass auf der Bühnenrückwand einige Regieanweisungen eingeblendet werden. Diese Hinweise dienen teilweise auch der Lokalisierung der Handlung. «Das Theater stellt einen unterirdischen dunklen Kerker vor», ist zu Beginn des zweiten Akts zu lesen. Vom Kerker, wo der Staatsgefangene Florestan eingesperrt ist, sieht man dann aber nichts, wie auch der Hof des Staatsgefängnisses oder das Pförtnerstübchen optisch nicht vorkommen.

Gewiss erwartet bei «Fidelio» niemand eine Ausstattungsoper mit spanischem Kolorit aus dem 18. Jahrhundert. Verschiedene Regisseure haben dagegen versucht, die aus dem Geist der französischen Revolution und des deutschen Idealismus geschaffene Oper Beethovens in einen aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Homoki entzieht sich einer Deutung, indem er in die Abstraktion flieht. Henrik Ahr hat ein Bühnenbild geschaffen, das man als Schuhschachtel beschreiben kann, die auf die Längsseite gestellt ist.

Natürlich steht dieser graue Raum ohne Requisite für die Enge eines Gefängnisses. Weil aber alle Figuren, die guten wie die bösen, durch versteckte Seitentüren beliebig ein- und austreten können, wirkt das unglaubwürdig. Wirkungsvoller sind die Momente, in denen sich die Rückwand öffnet und den Eingeschlossenen die Utopie einer Befreiung aufzeigt. Eine Doppelrolle nimmt der Chor ein, der als Offiziere und Wachen sowohl die Handlungsgehilfen Pizarros, als Gefangene aber zugleich auch dessen Opfer darstellt. Wer unterdrückt da wen?

Wenig hilfreich zur Charakterisierung der Bühnenfiguren sind die von Barbara Drosihn entworfenen abstrakten Gewänder in den Nichtfarben Schwarz und Weiss. Wieso sieht beispielsweise Jaquino genau gleich aus wie Florestan? Was das Regieteam bei so viel Neutralität der Ausstattung anstrebt, ist der Blick auf die Innenwelt der Figuren, auf ihre Gefühle und Beziehungen.

Am tragfähigsten erweist sich dieses Konzept an der Protagonistin: Anja Kampe ist eine Leonore aus Fleisch und Blut. Man erlebt es, wenn sie sich gequält aus den Umarmungen von Marzelline windet oder wenn sie ihren Florestan immer wieder zärtlich berührt und ihn damit durch ihre blosse Anwesenheit befreit. Und stimmlich verfügt die Leonore-erprobte Sopranistin souverän über die Mittel, um das alles auch musikalisch zu verwirklichen.

Nicht ganz so sensibel agiert der Amerikaner Brandon Jovanovich als Florestan. Die Regie charakterisiert ihn mit einer Binde um die Augen als Blinden, der verzweifelt einen Weg ins Freie sucht. Florestans Auftrittsarie zu Beginn des zweiten Akts wirkt extrem forciert, und dass er nach italienischer Manier bei gewissen Konsonantenverbindungen einen Vokal hineinschmuggelt, ist störend. Christof Fischesser als Rocco gefällt mit einem angenehmen Bass, ist aber als bestochener Gehilfe Pizarros zu sehr ein Gutmensch. Dem Pizarro von Martin Gantner nimmt man hingegen die Rolle des Gouverneurs des Staatsgefängnisses auf Anhieb ab. Auch Julie Fuchs ist als jugendlich verliebte Marzelline eine gute Besetzung. Hingegen sollte Ruben Drole, den man in Zürich hauptsächlich in Buffo-Rollen kennt, nicht unverkleidet die seriöse Rolle des Ministers spielen. Etwas blass wirkt Mauro Peter als Jaquino.

Drei musikalische Ebenen

Eine positive Nebenwirkung hat die szenische Abstraktion auf die Musik, die damit einen hohen Stellenwert bekommt. Generalmusikdirektor Fabio Luisi hält die Philharmonia Zürich zu einem breitgefächerten Spiel an. Was dem Dirigenten gut gelingt, ist die klangliche Realisierung der drei ganz unterschiedlichen stilistischen Ebenen von «Fidelio». Die Marcellina-Geschichte des ersten Akts kommt mit singspielartiger Leichtigkeit daher. Wenn dann Leonore das Zepter übernimmt, wird die Interpretation viel dramatischer und führt stringent zur Schlüsselszene hin. Und schliesslich folgt der oratorische Teil, den Luisi im Schlusschor in ekstatischem Jubel ausklingen lässt. Dazu passt, dass sich die Protagonisten und der Chor, der inzwischen auch befreit ist, mit ihrer Botschaft ans Publikum wenden.