Herbert Büttiker, Der Landbote (10.12.2013)
Für Beethovens «Freiheitsoper» hat sich das Opernhaus viel Freiheit genommen, aber der neue «Fidelio» wirkt szenisch grau und wenig inspiriert. Musikalisch sucht Chefdirigent Fabio Luisi um- so mehr den grellen Klang. Grossartig ist Anja Kampe als Leonore.
Der Chor versammelt sich auf der Bühne – ein schmaler Kasten mit herunterklappbarer Rückwand, auf der Szenenangaben projiziert sind wie etwa «Links ist eine mit Steinen und Schutt bedeckte Zisterne …». Der Chor steht mit dem Rücken zum Publikum und liest, was da steht, und das Publikum sieht zu, wie da gelesen wird. Ist das Theater? Natürlich geht es auf der Bühne nicht um die Steine aus Pappe oder Styropor und um ein möglichst naturalistisch modriges Verlies, in dem Florestan schmachtet, aber es geht um Schauplatz, das Hier und Jetzt handelnder Figuren, um eine konkrete Geschichte. Der neue Zürcher «Fidelio», in dem alle Dialoge gestrichen sind, wirkt wie eine Musikinszenierung, in die mehr oder weniger abstrakt eine Geschichte hineininterpretiert wird.
An darstellerisch-sängerischer Verkörperung der Figuren fehlt es allerdings nicht: Grossartig an der Spitze des Ensembles Anja Kampe als Leonore, die ihre grosse Arie in den expressiven Extremen leuchtend bewältigt, aber schon mit der eindringlichen Rezitativgestaltung, mit der Verbindung von Legato und Sprachakzent, Aussergewöhnliches bietet. Brandon Jovanovich gelingt es nicht ganz im selben Mass, expressiv und kontrolliert zu phrasieren, aber der beethovensche Aufstieg ins «himmlische Reich» ist ja auch eine Zumutung. Martin Gantner ist ein Don Pizarro von einiger Schärfe, macht aber unter Druck seinen schneidenden Bariton eher klein und intonatorisch diffus. Rollengerecht in allen Facetten entwickeln sich musikalisch die kleinbürgerlichen Porträts mit Julie Fuchs als Marzelline, Christof Fischesser als Rocco und Mauro Peter als Jaquino. Eher neben der Rolle wirkt Ruben Drole als Minister, der offenbar nicht kaschieren soll, dass er als Deus ex Machina die Regie in Verlegenheit bringt.
Schönheiten und Lautstärken
Den Hörer bringt eher die Huldigung des Chors in Verlegenheit: Fabio Luisis Dirigat hat neben den Vorzügen, die Aufmerksamkeit auf die wunderbaren lyrischen Exkurse der Bläser bis zum Fagott hinunter zu lenken und mit seinen Tempi die Musik spannend und sensibel auszuloten, auch die Tendenz zu harter und lauter Klanggebung. Der Chor, sehr schön im berühmten Auftritt der Gefangenen im ersten Akt, gibt hier, an die Rampe gestellt, das Äusserste, durchaus gekonnt und differenziert, aber ins Oratorische hochgepeitscht, dass einem Hören und Sehen vergehen wollte – eine Überdosis zum Ende des pausenlosen, zweistündigen Abends. Welch sublim musizierte Stücke in dessen Verlauf es aber auch gab – das Quartett im ersten Akt («Mir ist so wunderbar») etwa –, sei darob nicht vergessen.
Aber was wird aus all dem szenisch? Die Geschichte war zu ihrer Zeit auch deshalb berühmt, weil sie auf einer wirklichen Begebenheit zur Zeit der Revolution beruhte. Sie war gleichsam Tagesaktualität, als sie 1798 in Paris erstmals auf die Bühne gebracht wurde. Dass sie im Zeitgeschmack, unter Wiener Zensurbedingungen und in der deutschen Bearbeitung des Textbuches eine holprige und betuliche Gestalt erhielt, ist nicht wegzudiskutieren. Im Kontrast dazu katapultierte Beethovens Vertonung die Oper – die Frau lässt sich in Männerkleidern als Wärter anstellen und rettet in einer dramatischen Aktion ihren Gatten – aus der zeitbedingten Rührstück-Sphäre hinaus und machte sie in den drei Anläufen 1805, 1806 und 1814, berührend, grandios, zu einem universellen Appell an die Menschlichkeit, der über alle Zeit hinaus gültig bleibt.
Gesuchte Abstraktion
Die stilistischen Diskrepanzen des «Fidelio» haben zu vielerlei Experimenten geführt, zu mehr oder weniger sanften Retuschen am Dialog ohnehin. Dabei wäre nebenbei festzustellen, dass die Schwächen des Librettos die Gesangstexte nicht weniger betreffen als die Dialoge. Und das fällt jetzt in der dialoglosen neuen Inszenierung des Opernhauses vielleicht noch mehr ins Gewicht.
Beethoven hat ja wirklich auch dramatische Musik komponiert: die zen- trale Szene im Kerker, wo sich Leonore zwischen Florestan und Pizarro stellt, ist von explosiver Spannung und das Quartett erscheint als Moment «durchkomponierter» Oper. Aber gerade hier zeigt sich auch, dass ohne die Bodenhaftung des Dialogs (auch die Zwitterform des «Melodrams» ist in der Aufführung gestrichen) die Regie offenbar Mühe hat, die Figuren szenisch glaubwürdig zu motivieren. Wie Florestan mit verbundenen Augen hier die ganze Zeit gleichsam Blindekuh spielt, ist eine einzige Peinlichkeit.
Hinzu kommt, dass das Publikum die Rettungsszene schon einmal, gleich zu Beginn des Abends, als Prolog, vorgeführt bekommen hat. Dort allerdings stirbt Leonore im Handgemenge, und tot liegt sie auch am Ende der Oper nach dem Jubelfinale wieder auf der Bühne – ein pessimistischer Rahmen, der das utopische Moment der «Rettungsoper» unterstreicht und das Jubelfinale, so endlos es Beethoven komponiert hat und so geradezu schreiend es Fabio Luisi musizieren lässt, ins Land der Hoffnung und des Traums verweist. Und so, als Menschheitstraum, ist die Geschichte heute wohl auch zu verstehen.
Fataler Trompeteneinsatz
Der Eingriff in die Werkstruktur macht somit Sinn und würde noch mehr Sinn machen, wenn im spröden Bühnengrau (Bild: Henrik Ahr/Kostüme: Barbara Droshin) statt Didaktik sich auch so etwas wie eine Atmosphäre des Visionären entwickeln würde – zum Beispiel mit Beethovens Signaltrompete. Sie spielt in der zweiten Version der Szene nun einfach einen Moment früher, sodass das Gerangel, an dem alle vier Protagonisten beteiligt sind, vor dem fatalen Schuss unterbrochen wird. Wahrlich kein kaltblütiger Politmörder ist hier am Werk, den bei Beethoven eben nur Leonore mit der Pistole stoppt, sodass das Trompetensignal ihre Entschlossenheit nicht relativiert, sondern feiert. So verspielt dieser «Fidelio» alles: die politische Brisanz, die heroisch-revolutionäre Tat und das Aufleuchten von Transzendenz.