Beethoven durch die Brille von Brecht

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (10.12.2013)

Fidelio, 08.12.2013, Zürich

Eine radikale, streitbare Zürcher Inszenierung von Beethovens Oper «Fidelio»

Dem Philosophen Ernst Bloch sollen ­jedes Mal die Tränen gekommen sein, wenn in Beethovens Oper «Fidelio» das Trompetensignal ertönt, das die ­Ankunft des Ministers und damit die ­Rettung des Gefangenen Florestan ­ankündigt. So stark kann die emotio­nale Wirkung der Musik sein, auch wenn man die Handlung längst kennt.

Dass die Zürcher Neuproduktion dieser Oper beim Verfasser des «Prinzips Hoffnung» ­einen ähnlichen Effekt erzielt hätte, darf bezweifelt werden. Der Regisseur und Intendant Andreas ­Homoki verfiel nämlich auf die Idee, dem Ganzen einen Prolog voranzu­stellen, in dem die Befreiungsszene vorweggenommen wird und noch vor dem Trompetensignal im Handgemenge ein Schuss fällt, der Leonore tötet. Diese ist in den Kerker hinabgestiegen, um ihren Gatten Florestan zu befreien, den politischen Feind des Gouverneurs Pizarro.

So wäre denn nichts mit der Befreiungsoper und mit dem Happy End? Doch, meint Andreas Homoki, wir sind ja im Theater, und da stehen Tote manchmal wieder auf. Überdies kann man ja mal ausprobieren, wie die Sache ausginge, wenn Leonores Befreiungstat missglückte. Wir werden auch Zeugen der Einkleidung Leonores als Mann durch die brave Marzelline. Dadurch wird die Handlung im Grunde unverständlich. Wenn doch Marzelline weiss, dass Fidelio eigentlich eine Frau ist, wie kann sie sich dann unsterblich in ihn verlieben und gar im Liebesrausch über ihn herfallen? Ist sie vielleicht lesbisch? Und wenn die Gefangenen laut Text «in ihre Zellen gehen», warum bleiben sie dann auf der Zürcher Bühne einfach stehen? Wie kann Florestan im Kerker «den Jüngling sehen», da er doch bis zuletzt eine schwarze Augenbinde trägt?

Einblendungen statt Dialoge

Es sind Fragen, die man besser nicht so konkret stellt. Regisseur Homoki nimmt solche Widersprüche mit Lust an der Dialektik hin. Und lässt das Stück weitgehend doch so spielen, wie wir es kennen und lieben – mit dem «niederen Paar» Marzelline und Jaquino, dem ­bieder-geldgeilen Gefängnisaufseher Rocco und der heldenhaften Leonore, die sich im entscheidenden Moment gegen Pizarro auflehnt und ihrem Gatten Florestan das Leben rettet. Und mitsamt dem ausgelassenen Jubel der befreiten Gefangenen, in den auch Marzelline und ­Jaquino einstimmen.

Doch ganz ohne Eingriffe in die Werkgestalt geht das doch nicht ab. Die Ouvertüre ist gestrichen, damit entfällt auch die unter «Fidelio»-Kennern erbittert diskutierte Frage, welche der vier Ouvertüren denn die richtige sei. ­Gestrichen sind ebenso sämtliche gesprochenen Dialoge. Ersatzweise er­tönen einmal Stimmen über Lautsprecher, welche die fehlenden Dialoge ­ersetzen, und es gibt Schrifteinblendungen, die im Sinne von Brechts ­«epischem Theater» sagen, wo wir in der Handlung ­gerade stehen und was Sache ist.

Beethovens Oper wird dadurch ­kürzer – eine Stunde und 50 Minuten ohne Pause. Die Szenen folgen sich ohne Unter­brechungen, was den Ablauf dicht und spannend macht. Abgesehen vom unnötigen Prolog hat Homoki dem Stück so durchaus zu mehr Stringenz verholfen. Und er verzichtet im grauen Einheitsbühnenbild-Kasten von Henrik Ahr (die grossartig schlichten Kostüme schuf Barbara Drosihn) ausser auf die Pistole auf sämtliche Accessoires – da gibt es keine Kerkerschlüssel, keine Schaufel zum Ausheben des Grabes für den armen Gefangenen und keinen schweren Stein, den man im Keller­verlies des Florestan wegräumen ­müsste. Die Gefangenen tragen Anzüge und wirken nicht so pittoresk verlumpt wie in den meisten Aufführungen. Dafür ist die Personenführung höchst detailliert und erinnert nicht s­elten an modernes Tanztheater. Trotz der Einwände also eine sehr sehenswert Inszenierung.

Höhensicher gesungen

Gesungen und musiziert wird auf hohem Niveau. Generalmusikdirektor Fabio Luisi leitete am Sonntag eine konzentrierte Premiere, an welcher auch der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor und das Phil­harmonia-Orchester ihren Anteil hatten. Mit Anja Kampe hat die Produktion eine vorzügliche, höhen­sichere und präsente Leonore, mit Brandon Jovanovich einen unerhört starken Florestan, dessen Auftrittsszene unter die Haut geht. Don Pizarro ähnelt ein wenig penetrant Bundesrat Johann Schneider-Ammann, ist sängerisch bei Martin Gantner aber gut aufgehoben.

Christof Fischesser ist ein nicht übertrieben derb gezeichneter, durchaus sympathischer Rocco und Julie Fuchs ein hippeliges Marzelline-Schätzchen, das man mit seinem Sekretärinnen-Charme einfach gernhaben muss.