Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (10.12.2013)
Der Zürcher Opernhaus-Intendant Andreas Homoki baut zusammen mit seinem Generalmusikdirektor Fabio Luisi Beethovens «Fidelio» um. Und erntet dafür seine ersten Buhs.
Die Tür klappt auf, der böse Don Pizzarro stürzt in den Raum, und wir stürzen mitten in die dramatischste Stelle dieser Geschichte. Florestan, der politische Gefangene, soll umgebracht werden, seine als Gefängnisdiener Fidelio verkleidete Frau Leonore verhindert es, und eigentlich müsste alles gut gehen - aber da löst sich ein Schuss. Leonore ist tot.
Nein, so hat sich das Beethoven nicht gedacht. Das Quartett, an dem sich auch noch Kerkermeister Rocco beteiligt, befindet sich bei ihm im zweiten Akt und führt direkt in die finale Friedensutopie. Es ist das Kernstück jener grossen Oper, in die sich «Fidelio» nach einem komödiantischen Beginn verwandelt - und der Moment, in dem das Werk ins Oratorienhafte kippt.
Dass der Regisseur und Zürcher Opernhaus-Intendant Andreas Homoki sich gegenüber Beethovens Vorlage einiges herausnimmt, ist damit von der ersten Sekunde an klar. Und es bleibt nicht bei diesem einen Eingriff: Homoki und sein Generalmusikdirektor Fabio Luisi haben bei ihrer ersten gemeinsamen Zürcher Arbeit auch die Sprechtexte des «Fidelio» gestrichen. Sie lassen das anfängliche Quartett in die dritte Leonoren-Ouvertüre übergehen. Und sie verschieben das neckische Duett zwischen Marzelline und ihrem unglücklichen Verehrer Jaquino nach hinten, um direkt in den Dialog zwischen Marzelline und Fidelio einzusteigen.
Tradition weiterdenken
Darf man das? Bringt es was? Wie schief es gehen kann, wenn ein Regisseur in die Partitur eingreift, hat man vor ein paar Monaten beim Zürcher «Don Giovanni» gesehen. Beim «Fidelio» ist die Ausgangslage nun allerdings eine andere: Während Mozart ein Werk geschrieben hat, das weder dramaturgisch noch musikalisch irgendwie zu verbessern wäre, ist Beethovens einzige Oper ein Work in Progress. Immer wieder hat er sie umgestaltet, neue Ouvertüren entworfen, die Handlung gestrafft - und dabei kein wirklich schlüssiges Werk geschaffen, sondern die wohl spannendste Baustelle der Operngeschichte.
Entsprechend mühen sich Regisseure und Dirigenten ab mit diesem Werk. Schon viele haben die biedermeierlichen Sprechtexte verändert, oft wurde (nach Gustav Mahlers Vorbild) die dritte Leonoren-Ouvertüre vor dem letzten Bild eingeschoben. Homoki und Luisi haben also kein Tabu gebrochen, sondern lediglich eine Tradition weitergedacht.Am Anfang klappt das hervorragend: Das dramatische Quartett treibt einem den Puls in die Höhe, der Übergang zur Ouvertüre wird musikalisch höchst sensibel vollzogen. Und wenn die tote Leonore während dieser Ouvertüre wieder aufsteht, wenn sich damit die Geschichte von jedem Realismus löst und von Beginn weg in einen utopischen Raum verschoben wird, der in Henrik Ahls Bühnenbild eine leere graue Box ist: Dann entspricht das der Absicht dieses Werks besser als so manche buchstabengetreue Aufführung.
Die eigentliche Oper erlebt man so in einer Art Rückblende, als Traum oder als Vision der sterbenden Leonore: bis hin zum Quartett, das beim zweiten Mal - und nur in diesem Traum - tatsächlich glücklich endet. Eine kühne Idee, die das Stück (gerade in dieser kargen, requisitenfreien Ästhetik) aus vielen Widersprüchen befreien könnte. Aber anders als Leonore, die für Florestan aufs Ganze geht, scheint Homoki seinem eigenen Mut nicht zu trauen: Jedenfalls begnügt er sich nicht mit diesem einen Schritt weg vom Realismus, sondern macht noch einen zweiten und lässt auf der Rückwand der Bühne Handlungsanweisungen aus der Partitur einblenden, die von den Figuren interessiert studiert werden. Die Vision wird also zur Oper - und die Kühnheit führt direkt in eine übervorsichtige Relativierung all dessen, was hier gezeigt wird.
Verkleidung nur fürs Theater
Es beginnt schon bei der Verkleidung der Leonore als Fidelio. Hier schafft Marzelline, die Tochter des Kerkermeisters, die von Barbara Drosihn entworfenen Männerkleider herbei; sie weiss also von Anfang an, dass ihr «Geliebter» eine Frau ist. Nicht, dass man diese Geschlechterverwechslung schon je glaubwürdig erlebt hätte auf einer Bühne: Aber dass hier nicht einmal mehr die Figuren daran glauben, bringt die Geschichte doch sehr ins Wanken.
Marzellines Liebe, Jaquinos Eifersucht, Leonores Entschlossenheit: Das sind so nur noch Theater-Emotionen, und je heftiger Homoki sie ausspielen lässt, desto abstrakter wirken sie. Der Raum, der (nicht nur dank seiner sich öffnenden Rückwand) offen gewesen wäre für alles, schliesst sich um ein Ensemble, das von einer Utopie singt, aber nicht an diese Utopie glauben darf.Das tut nur die Musik. Fabio Luisi nutzt die Chance, die ihm die Streichung der Zwischentexte bietet, und leuchtet die stilistischen Brüche zwischen den musikalischen Nummern hell aus. Manche Orchesterpassagen nimmt er so weit zurück, dass sie auf fast filmmusikalische Weise Atmosphäre schaffen; anderes spielt er mit der Philharmonia Zürich in mal schrillen, mal satten Farben aus. Lyrisches prallt auf Hochdramatisches, Singspielartiges auf Tragisches, und das formal wie klanglich abgerundete Quartett «Mir ist so wunderbar» steht mitten in einem musikalischen Experimentierfeld. Wie viel Beethoven gewagt hat, wie sehr er auf der Suche war, das hört man selten so deutlich wie hier.
Man hört es auch bei den Sängerinnen und Sängern, allen voran bei Anja Kampe, die eine erfahrene Leonore ist und dennoch nie nach Routine klingt. Es ist eine Unbedingtheit in ihrer Stimme, die nicht nur den hämischen Pizzarro von Martin Gantner lähmt, sondern auch das Publikum bezwingt. Nichts Naives, Sopranseliges strahlt diese Leonore aus, ihr Mut ist ein erlittener. Die Andeutung eines Tons genügt, um den Raum zu füllen; wenn Kampe aussingt, droht sie ihn zu sprengen.Das liegt allerdings auch am Bühnenbild, das akustisch wie ein Verstärker funktioniert. Vor allem die Ensembles und die Chorszenen werden in dieser Box rasch zu laut, und der Ausruf «Gott», mit dem Brandon Jovanovichs Florestan (in Beethovens Version) in die Geschichte einsteigt, wirkt in seiner überlangen Überlautstärke schon fast karikaturesk. Wie differenziert der Amerikaner seinen dunklen Tenor einzusetzen weiss, zeigt er bei diesem Rollendebüt nur selten; von der psychologischen Tiefe jenes Sergei, den er im April in Homokis Inszenierung der «Lady Macbeth von Mzensk» gab, ist dieser Florestan im Moment noch weit entfernt. Aber immerhin verschärft sich so, durchaus im Sinne Luisis und wohl auch Beethovens, der Kontrast zur Singspielwelt des Kerkermeisters: Gleich drei neue Ensemblemitglieder können sich hier mit lyrischen Stimmen bewähren - Julie Fuchs als Marzelline, Mauro Peter als Jaquino und Christof Fischesser als Rocco.Die Sänger und Luisi durften sich am Ende bejubeln lassen, Andreas Homoki nahm mit betretener Miene seine ersten Buhs entgegen: für einen «Fidelio», der in den guten Momenten höchst anregend ist. Und in den anderen immerhin auf weit interessantere Weise scheitert als viele andere Produktionen dieses Werks.