Hochriskantes Spiel ohne Netz und doppelten Boden

Elisabeth Feller, Mittelland-Zeitung (10.12.2013)

Fidelio, 08.12.2013, Zürich

Am Opernhaus Zürich lesen Andreas Homoki und Fabio Luisi Ludwig van Beethovens «Fidelio» radikal neu

Töt’ erst sein Weib!» Der Aufschrei einer Frau fährt ein. In einem Verlies entbrennt ein Kampf – ein Schuss löst sich und Leonore sinkt tödlich getroffen nieder; daneben kauert ihr Mann Florestan. Eben erst hat er seine Frau nach Jahren im Kerker wieder gesehen und umarmt. Die Verzweiflung will ihn übermannen, dränge da nicht ein Trompetensignal an seine Ohren, das – vom Orchester aufgenommen – in eine Musik überführt wird, die allen vertraut ist: die dritte Leonoren-Ouvertüre. Nanu?

Das Erstaunen über das, was wir zunächst in Andreas Homokis Zürcher Inszenierung von Beethovens einziger Oper «Fidelio» sehen und hören, ist gross. Es hält an, als sich die Rückwand der Bühne öffnet, die Totgeglaubte aufsteht und Neuhinzutretende begrüsst. Für einen Moment triumphiert Glück, bis sich die Wand schliesst und sich Leonore wieder in jenem Verlies findet, in dem sie soeben erschossen worden ist.

Das Pathos wird umschifft

Erneut ist die Verzweiflung fast mit Händen zu greifen, erneut gibt es einen Lichtblick: Marzelline (Julie Fuchs), die Fidelio, der als Mann verkleideten Leonore, Liebesworte zuflüstert. Erst jetzt befinden wir uns da, wo wir uns nach dem Libretto schon viel früher hätten befinden müssen: in der ersten Szene. Doch in Zürich beginnt der Abend mit einem Teil des zweiten Akts auf den die Leonoren-Ouvertüre folgt. Ungewöhnlich. Aber in dieser Inszenierung ist alles derart anders, dass man erst einmal die Luft anhält. Regisseur Homoki hat «Fidelio» neu befragt, was seine Berufskollegen zwar auch tun, doch diesmal ist das Ergebnis radikal und – bezwingend.

Homoki hat nicht kapituliert vor der Aufgabe, eine Oper in Angriff zu nehmen, die sowohl deutsches Singspiel wie tragische Oper und am Ende eine monumentale Kantate ist. Strittig sind seit jeher die Sprechtexte.

Wie inszeniert sich ein solch schwieriges Werk? Indem sich Homoki auf den Kern schlechthin konzentriert: Beethovens Appell an die Menschen, Liebe und Solidarität zu zeigen. Das Pathos umschifft der Regisseur, indem er die biederen Texte ersatzlos streicht; das Geschehen abstrahiert und die Sängerdarsteller auf einer Bühne ohne Requisiten agieren lässt. Die Handlung entwickelt sich so einzig und allein aus der Konfrontation der Figuren und ihrem Zusammenspiel; die Musik entfaltet – da nicht durch Sprechpassagen unterbrochen – einen Impetus, der als treibende emotionale Kraft die Stimmen der Sänger für einmal instrumental begreift und sie dementsprechend ins Orchester einbindet.

Ist bereits das Szenische frappierend, ist es die musikalische Interpretation des Dirigenten Fabio Luisi und der Philharmonia Zürich genauso. Die anfängliche Skepsis, ob die einzelnen Musiknummern ohne Texte zufällig anmuten, verpufft. Beethovens Musik wird neu wahrgenommen; ihrer neu zu hörenden Schroffheit und Disparatheit entspricht Hamlets Satz «Ists Wahnsinn auch, so hat es doch Methode». Diese zeichnet Homokis Inszenierung bis ins Detail aus. Wie angetönt, liefert sie keinen naturalistischen Hinweis auf die Örtlichkeit. Henrik Ahr evoziert das Gefängnis durch einen hohen, beklemmend finsteren Raum, der oft längsseitig bespielt wird. Die Schauplätze sowie die handelnden Personen und Schlüsselsätze des Librettos werden in riesigen Lettern ab und zu auf die Rückwand geworfen – eine kleine Hilfe für den Zuschauer, dessen Imaginationskraft so gefragt ist wie kaum je zuvor.

Sie fällt einem insofern leicht, als dass Sängerdarsteller auf der Bühne stehen, die mit einer winzigen, entsagungsvollen Geste eine kapitale Geschichte beschwören können.

Alles nur ein Traum?

Anja Kampe ist Leonore. Ist es mit verzehrender Leidenschaft, aber auch mit scheuer Zurückhaltung. Als sie mit Rocco (Christof Fischesser) den Kerker betritt und Florestan wieder begegnet, ist das für sie eine Wunscherfüllung. Diese wiegt aber so schwer, dass Leonore und Florestan einander nicht um den Hals fallen, sondern sich vorsichtig umkreisen. Zartheit und Furor bestimmen Kampes gleichermassen eindringliche wie anrührende Leonore. Dazu passt Brandon Jovanovichs Florestan, dessen tenorale Attacke bisweilen allerdings auf Kosten der Linienführung geht.

Aber was tut das in einer Inszenierung, die generell mit scharf umrissenen Charakterstudien von Martin Gantner (Pizarro), Mauro Peter (Jaquino) und Ruben Drole (Minister) aufwartet. Dass sie am Ende (fast) alle in den Jubelchor «Wer ein holdes Weib errungen» ausbrechen, entspricht dem Libretto. Bei Homoki teilt sich da die Menge – und wir sehen das anfängliche Bild: Leonore liegt tot am Boden. Kann sie sich wieder ins Spiel bringen? Oder war alles vielleicht bloss ein Traum? Ganz gewiss kein Traum ist zum Schluss ein Buh-Gewitterchen, das von zustimmendem Applaus überlagert wird.