Im Labyrinth der Gefühle

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (28.01.2014)

Alcina, 26.01.2014, Zürich

Vokale Sternstunden bietet die neue Produktion von Georg Friedrich Händels Zauberoper «Alcina» am Opernhaus Zürich. Und das in einer ebenso klugen wie bühnenwirksamen Inszenierung.

In den letzten Wochen sind sie wieder besonders heftig vermisst worden, die goldenen Zeiten, da am Opernhaus Zürich die Stars des Tages (und oft auch jene vergangener Tage) aufgetreten sind; heute, unter der künstlerischen Leitung von Andreas Homoki, bleibe das ausgespart. Was es mit dieser Klage auf sich hat, kann bis Ende Februar überprüft werden. Bis dann nämlich läuft die grossartige neue Produktion von Georg Friedrich Händels Zauberoper «Alcina», die jetzt unter rauschendem Beifall herausgekommen ist. In der Titelrolle präsentiert sie Cecilia Bartoli, die inzwischen vielleicht noch umstrittener ist als früher, aber immer noch einen Spitzenplatz unter den Topstars der Gesangskunst einnimmt. Dazu kommen jedoch zwei weitere, geradezu sensationelle Entdeckungen – zu den Maximen, die sich Homoki und sein Team gesetzt haben, gehört das Bemühen, Sängerinnen und Sänger zu präsentieren, die anderswo längst geschätzt werden, nur in Zürich noch nicht bekannt sind. Das gibt es.

Der Weg hinaus

Vor allem aber ist es in dieser Premiere zum Debüt von Giovanni Antonini gekommen, dem Virtuosen auf der Blockflöte, der auch schon das Tonhalle-Orchester Zürich verzaubert und am Pult des Kammerorchesters Basel mit seiner Auslegung der Sinfonien Ludwig van Beethovens Furore gemacht hat. In Antonini, der im zweiten Akt auch zu seinem Instrument greift, begegnet man der dritten Phase der historischen Aufführungspraxis – nach den ersten Versuchen in den 1920er Jahren und dem folgenreichen Aufbruch ab 1970. Selbstverständlich, frei und kreativ geht er mit all den Möglichkeiten um, die seine ästhetischen Väter erobert haben. Wie die Affekte, so sind die Tempi äusserst abwechslungsreich. Dazu kommen eine ausgeprägte, wenn auch nirgends schulmeisternde Phrasierung und eine Artikulation, die den Kontrast zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen oftmals lustvoll zuspitzt. Das Orchester La Scintilla zieht nach Massen mit. Einzig das Continuo bleibt etwas beiläufig; die beiden Cembali unterscheiden sich klanglich zu wenig voneinander, während die Harfe zu sehr im Hintergrund bleibt – im Gegensatz zur Theorbe, die mit ihren Basswirkungen eigenständige Farben einbringt.

Sehr gravitätisch hebt die à la française punktierte Ouvertüre an – und alsbald öffnet sich auf der von Johannes Leiacker gestalteten Bühne ein liebevoll ausgeformtes Bild. Bei halb in die Höhe gehobenem Boden zeigt sich im Keller die Untermaschinerie, in der Beletage jedoch eine Idylle, die von prächtiger Illusionsmalerei, farbenfrohen Kostümen (Ursula Renzenbrink) und kunstvoll gedrechselten Perücken sowie barocken Tänzen (Thomas Wilhelm) lebt. Das ist der Anfang eines Wegs, der mit bemerkenswerter Dynamik durch die starre Abfolge von zwei Dutzend Dacapo-Arien führt – Christof Loy hat die Herausforderung, vor welche die verwickelte Geschichte von Händels «Alcina» jeden Regisseur stellt, blendend gemeistert. Das Reich der Zauberkönigin Alcina, die jeden männlichen Wesens sogleich habhaft werden muss, davon aber etwas ermattet ist, dieses Reich ist das barocke Theater mit seinen kunstvollen Stilisierungen, hinter denen sich so manches verbergen kann. Und je mehr dieses Reich an Macht verliert, desto mehr verliert sich auf der Bühne der barocke Prunk; am Ende, wenn Alcina mit einem Knall in die Unterwelt versunken ist, sind die Figuren zurück in Freiheit und bei sich selber, weshalb dann Alltagskleidung dominiert.

Äusserst eindrücklich, wie Cecilia Bartoli diesen Weg, nämlich den Niedergang der Königin Alcina, nachvollzieht. Das Timbre mag nicht mehr so frei sein wie ehedem, aber das leicht Kehlige ihrer Stimme hat an Reiz nicht verloren. Und auch wenn sich das Vibrato inzwischen merklich stärker in den Vordergrund schiebt, so weiss es die Sängerin noch immer raffiniert zur Bildung perlender Koloraturen einzusetzen. Einzigartig bleibt ihre Kunst in der Expressivität des Leisen; «Sì, son quella» im ersten Akt und «Ah, mio cor» im zweiten bilden Höhepunkte der Verhaltenheit – und wie sie in der zweiten Arie die rasende Bewegung des Mittelteils auf einem liegenden Ton auffängt und so zum Dacapo findet, zeugt von ungebrochener Meisterschaft. Indessen sind in dieser Produktion der Primadonna zwei Sängerinnen auf den Fersen, die noch ganz andere Dimensionen erkennen lassen. Als der von Alcina verzauberte Ruggiero lässt die Schwedin Malena Ernman, zumal in ihrer ersten Arie, «Di te mi rido», Koloraturen von hinreissender, geradezu instrumentaler Trennschärfe hören; dazu kommen ein enormer Stimmumfang und eine darstellerische Agilität sondergleichen. Nicht weniger überraschend die junge Französin Julie Fuchs in der Partie der Morgana, der Schwester der Königin. Ein gertenschlankes, obertonreiches Timbre verbindet sich mit makelloser Beweglichkeit, einem sorgsamen Umgang mit dem Vibrato und viel Sinn für die phantasievolle Auszierung der Dacapo-Teile – hier ist die historische Aufführungspraxis auch im Vokalen verwirklicht.

Fulminantes Finale

Gesangskunst vom Feinsten wird da also geboten, auch von Fabio Trümpy (Oronte) und Erik Anstine (Melisso), den beiden einzigen Herren unter den Solisten. Im dritten Akt freilich, der Untergang der Alcina wird da noch und noch hinausgezögert, beginnt sich das in Zürich nur mässig gekürzte Stück in die Länge zu ziehen. Christof Loy, sozusagen ein «Alcina»-Spezialist, weiss das natürlich, und so wartet er zu später Stunde mit einigen Besonderheiten auf. Nicht nur gibt es hier einen spektakulären Blick auf die Rückseite der aus dem Lot geratenen barocken Bühne. Und nicht nur darf sich hier Varduhi Abrahamyan, welche die als Mann verkleidete Bradamante mit dunkler Wärme gibt, ein zweites Mal ausziehen. Es kommt auch, der Regisseur holt damit die gestrichenen Ballettnummern wieder herein, zu fabulösen Tanzeinlagen – und tatsächlich darf man hier wohl zum ersten Mal überhaupt einer in Liegestütze gesungenen Arie beiwohnen (Malena Ernman macht auch das mit links). Schliesslich löst sich der Spuk und zieht sich das wie Alcina etwas in die Jahre gekommene Amörchen (Silvia Fenz) in seine Kiste zurück. Dann ist die Bahn frei für den frenetischen Beifall, der an der Premiere vor keinem Pianissimo-Schluss, an einer Stelle sogar nicht einmal vor der Kadenz haltgemacht hat.