Amor mit Altersfalten

Herbert Büttiker, Der Landbote (28.01.2014)

Alcina, 26.01.2014, Zürich

Die Zauberinsel der Alcina ist in der neuen Zürcher Inszenierung ein Barocktheater. Am Ende ist es demontiert. Aber das Opernhaus selber steht glänzend da. Es gab Jubel für die Titelheldin Cecilia Bartoli und das ganze En­sem­ble.

Georg Friedrich Händels Oper «Alcina», 1735 am Covent Garden in London uraufgeführt, war eine der grössten Theaterattraktionen ihrer Zeit, und sie bleibt mit der Zauberin und ihrem magischen Reich eine szenisch-musikalische Herausforderung erster Güte. Zu zeigen ist eine bezaubernde Welt und eine bezaubernde Frau, in deren Bann auch die tugendhaftesten Helden geraten. Üppige Natur, glanzvolle Paläste, festlicher Tanz, grosse Robe, betörender Gesang – so muss man sich das vorstellen: ein erotisches Paradies.

Aber auch das Paradies hat ein Verfallsdatum. Die Flüchtigkeit ihres Zaubers erfährt Alcina ausgerechnet, als sie erstmals einen Partner, den Ritter Ruggero, fester an sich binden möchte. Ihre bisherigen Eroberungen entsorgte sie der homerischen Circe gleich, indem sie sie in Tiere und Felsen verwandelt. Jetzt aber verschwört sich alles gegen sie. Bradamante, die Verlobte Ruggeros, lockt ihn zurück, sein alter Lehrer erinnert ihn an die edlen Ziele seiner Erziehung. Und die Gefahr für Alcina kommt auch aus dem Inneren ihrer Magie, die der Zeit und Verunsicherung nicht standhält: «Bin nicht mehr schön und liebenswert in deinen Augen» ist der Text schon der zweiten von sechs Arien der Titelheldin, mit der Händel in allen Schattierungen von Eifersucht und gekränktem Stolz, Wut und Wehleidigkeit das Endspiel einer Femme fatale vorführt.

Entzauberung

Zu sagen, für Cecilia Bartoli, die jetzt in dieser Rolle ihr Debüt gab, sei die Alcina die perfekte Partie, ist unter diesen Vorzeichen ja nicht unproblematisch. Aber alles kommt ihr hier entgegen. Da ist der Bann der rasenden Koloraturen, des sängerischen Furors überhaupt, die in Händels Musik ihren unerhörten Auslauf haben, da ist die grosse Allüre des barocken Pathos, und wenn dem allem dann doch auch Schönheit und Glanz erotisierender Klangsinnlichkeit abgeht, so scheint auch dies dem Porträt der schillernden Titelheldin gemäss.

An kontrastierenden Frischkuren für die Ohren fehlte es an diesem Abend nicht: Morgana, die flatterhafte jüngere Schwester der Alcina, für die Händel melodiös kokette Arien bereitstellt, ist mit der strahlenden Sopranstimme von Julie Fuchs, man muss das Wort wiederholen, bezaubernd besetzt. Das gilt auch für Bradamante. Mit viel Wärme und Agilität, homogen gerundetem Klang über die ganze Skala ist die Altistin Varduhi Abrahamyan schon sängerisch prädestiniert für die Verkörperung der empfindsamen und unerschütterlich Liebenden, die da in Männerkleidung auftritt und tapfer bereit ist, für ihr Ziel zu kämpfen.

Ruggeros Moon Walk

Neben den Partien in der zweiten Linie – solide besetzt mit Fabio Trümpy als Oronte und Erik Anstine als Melisso – ist die dritte männliche Rolle, diejenige des Ruggero, wiederum mit einer Frau besetzt. Ursprünglich für einen Kastratenstar geschrieben, erhält die Figur nun von Malena Ernman geballte Frauenpower, zwielichtig in verschiedener Hinsicht freilich. Was sie mit ihrer grossen Stimme zwischen satter, geschmeidiger Tiefe und manchmal stechenden, schleifend intonierten Höhen bietet, ist reichlich heterogen und die darstellerische Interpretation scheint von momentanen gestischen Effekten mehr bestimmt als vom Charakter der Szene. Aber das ist auch Sache der Regie, die sie das berühmte «Verdi prati» vor dem Vorhang konzertieren lässt. Zur puren Showeinlage wird ihre letzte Arie. Die allerdings hat es in sich. Da präsentiert sich eine fulminante Popkünstlerin, die singend mit dem Ballett mithält und den Moon Walk mit den spektakulären Figurationen der Barockmusik mühelos zusammenbringt.

Zwei Dutzend Arien: Dem Händel-Theater auch als Theater gerecht zu und den Abend nicht lang werden zu lassen, ist eine Kunst. Der Dirigent Giovanni Antonini lässt das Orchestra La Scintilla in reich differenzierter, aber in keine Richtung forciert wirkender Tempogestaltung farbig musizieren, stets im Sog eines starken musikalischen Flusses, dem sich alle Gewichte des Ausdrucks einordnen. Dass Händel Instrumentalsoli charakteristisch einsetzt, trägt zu Abwechslung bei – besonders schön etwa das Cello in der Arie der Morgana.

Das Inszenierungsteam um den Regisseur Christof Loy tut das Seine für die Kurzweil. Alcinas Reich ist das Barocktheater, Johannes Leiackers aufwendige Bühne zeigt es erzählfreudig in drei kontrastierenden Aspekten für jeden Akt. Bühne und Unterbühne, Garderoberäume: vielfältige Bewegungslandschaften auch für Ballett, Statisterie und einen gealterten Amor, der aus der Mottenkiste steigt und offenbar seit Urzeiten zum Fundus gehört.

Das Phantom der Oper

Die Kostüme (Ursula Renzenbrink) konfrontieren Alcinas ausladenden Barock mit Ruggeros smartem Rokoko- und modernem Anzug für Bradamante und Melisso. Mit der Entzauberung von Alcinas Reich nimmt das nüchterne Gegenwartskostüm überhand, und im dritten Akt ist das Barocktheater, nur mehr ein Wust zusammengeschobener Kulissen auf der Opernhausbühne. Das Ende der Illusionen ist gekommen. Nur Alcina will ihren gewaltigen Reifrock nicht ablegen.

Das alles ist in seiner Bilderfreude attraktiv, aber als Spiel auf verschiedenen Ebenen auch leicht verwirrend. Vielleicht wird zu wenig deutlich, dass die primäre Bühne nicht die des nostalgisch pittoresken Barocktheaters ist, sondern die des Opernhauses. Vielleicht müsste Cecilia Bartoli deutlicher machen, dass da eine Sängerin hier und jetzt eine Primadonna des 18. Jahrhunderts spielt, welche Alcina spielt. Die Signale für diese doppelte Spiegelung der Figur bleiben aus. Dass am Ende der Kronleuchter des Opernhauses bzw. eine Kopie davon auf die Bühne herunterstürzt, will ja wohl sagen, dass es um das Phantom der Oper in Zürich geht.