Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (28.01.2014)
Das Opernhaus Zürich feiert mit Georg Friedrich Händels Zauberoper «Alcina» einen Triumph
Als «Homunkulus» wurde der Zürcher Opernhausintendant diese Tage von Leserbriefschreibern beschimpft, als Intendant, der keine Stars und keine «schönen» Inszenierungen mehr biete. Doch wäre dieser Andreas Homoki am Sonntagabend im Applaussturm zufällig auf die Bühne gestolpert, die Zürcher hätten ihm Kusshände und Blumen zugeworfen. Ja, sogar jeder Papp-Säule dieser Aufführung wäre es so ergangen, denn das Opernhauspublikum war nach drei Stunden und 45 Minuten in Händel-Ekstase geraten.
Kein Wunder: Auf der Bühne war für das 1735 uraufgeführte Zauberinnen-Drama «Alcina» alles prächtig angerichtet, ein raffinierter Mix aus guter alter Oper und modernem Chic zu sehen und Sänger zu erleben, die sich an Ausdruck und Schöngesang überboten. Mitten drin: Zürichs heiss geliebte Barock-Primadonna Cecilia Bartoli.
«Mitten drin» war sie im wahrsten Sinn des Wortes, denn es konnte kein Applaus-Sieger ausgemacht werden: Frankreich mit Julie Fuchs (Morgana) und Italien/Schweiz mit Cecilia Bartoli (Alcina) teilten sich den obersten Podestplatz. Bei der zweiten Zwischenzeit lag Schweden noch mit Malena Ernman (Ruggiero) in Führung, bot sie doch während ihrer «Tiger»-Arie eine Ballett-Performance, die jede Castingshow-Jury mit dem Finalticket belohnt hätte. Zum Schluss gabs Bronze. Bloss den Hauch eines Hohen C am Podestplatz vorbei: Armenien mit Varduhi Abrahamyan (Bradamante).
Die Operngralshüter mögen uns so viel Sportsgeist verzeihen, aber die Zürcher Aufführung zeigte bestens, dass es in der Barockoper Georg Friedrich Händels (1685–1759) nun mal ums Hören geht. Daraus ergibt sich die Parteinahme, das Mitfühlen mit den Trauernden und den Liebenden und dann – ein Donnerwort! – die Läuterung: Ja, dieser Abend erlaubte eine Katharsis im besten aristotelischen Sinn. Jenen Besucher hätten wir sehen wollen, der nicht mitfieberte, mitdachte, sich selbst und die Welt reflektierte und mit Seelengewinn auf den Nachhauseweg ging.
Nymphomanin trifft Lump?
Zauberin Alcina, die ihre Männer wie die Lippenstiftfarbe wechselt, eine gefühllose Nymphomanin? Der ihr verfallene Ruggiero ein triebgesteuerter Lump? Bradamante, Ruggieros Verlobte, eine Heldin, da sie ihn aus den Fängen Alcinas befreit? Morgana, die sich Hals über Kopf in die als Mann verkleidete Bradamante verliebt, ein Flittchen? Nichts war da klar. Dank der unheimlichen Spiellust der Protagonisten und Christof Loys feinfühliger Inszenierung verlief nichts nach Schema.
Gegen 21 Uhr muss es gewesen sein, als für die Zürcher Opernbesucher keine Aussenwelt mehr existierte, als sie sich dem Atem Cecilia Bartolis ergaben. Ihr «Aaaaaaaaaaaah!» ging via Mark und Bein direkt in die Seele. «Mein Herz! Du bist betrogen!», weinte Alcina in die Welt hinaus – ein Universum von Schmerz in einem einzigen Vers! Und dazu die Gestalt dieser italienischen Oper-Heroin, dieser tausend Kreuze tragende Bartoli-Blick.
Noch erstaunlicher, wie sich Cecilia Bartolis Stimme immer mehr zum Reinen hinwendet. Die Mezzosopranistin ist nun keine falsche Expressionistin mehr, übertüncht nun nicht mehr Gefühlsregungen, die sie mit rein stimmlichen Mitteln nicht darstellen konnte, mit Ächzen, Schreien oder Hauchen. Bartoli singt heute jede Note wohlgeformt aus. Aus dem Ansatz einer Silbe schöpft sie bereits gefühlvollen Klang.
Diven-Versteher Loy als Regisseur
Regisseur Christof Loy, der Operndiven-Versteher, der auch für Koloraturwunder Edita Gruberova die schönsten Inszenierungen entwirft, hat für Bartoli den roten Teppich ausgerollt: «Alcina» spielt nicht auf einer einsamen Insel, sondern in einem barocken Theater, das Bühnenbildner Johannes Leiacker perfekt entworfen hat.
Kaum treten Bradamante und Melisso in dieses Opern-Zauberreich der Primadonna Alcina ein, ist man hingerissen von der Spannung. Hier die gepuderten Barockpüppchen, da die grauen Anzugträger – und mitten drin ein «echter» Amor. Wenn später Alcina doch noch zum Zauberstab greift, ist es die «echte» Operndiva, die im Liebeswahn nicht mehr zwischen Leben und Opernrolle zu trennen weiss. Zum Schluss erlaubt sich Loy einen barocken Coup du Theatre, der Bartoli ein Denkmal setzt...
Mitdenker aller Sänger und der Regie ist Dirigent Giovanni Antonini: Wie er das Orchester aus der Sprache heraus dirigiert, wie er gleichzeitig die Sänger zu lyrischen Instrumenten macht, ist faszinierend. Und brauchte es einen Beweis, wie atmend er die Barockformation La Scintilla singen und musizieren lässt, man hätte nur sehen sollen, wie er eine Arie Flöte spielend begleitete: Kein Dirigent hat je auf diese Art und Weise mit einem Sänger im wahrsten Sinn des Wortes mitgeatmet.
Mitatmen, mitfühlen, hingehen und sich von der Barockoper und ihren Diven verführen lassen! Wann, wenn nicht dieser Tage?