Urs Mattenberger, Neue Luzerner Zeitung (13.01.2014)
Einmal mehr erhält das Luzerner Theater begeisterten Premierenapplaus für eine Barockoper: Händels «Alcina» zaubert mit realen Gefühlen und vorzüglichen Sängern.
In der Händel-Produktion «Alcina» sei «fürs Auge wie fürs Ohr» alles da, was man sich von einer barocken Zauberoper wünsche, sagte die Sängerin Jutta Maria Böhnert im Gespräch mit unserer Zeitung (Ausgabe vom Freitag): eine Bühnenmaschinerie, die spektakuläre Bilder und Szenenwechsel ermöglicht, ein Kostümfest, das Rokoko mit Avantgarde verbindet, und eine sensible Personenregie, die das barocke Spiel um enttäuschte Liebe, Sehnsucht und Leidenschaft existenziell erfahrbar macht.
Röcheln nah am Ohr
Wer am Samstag mit entsprechend hohen Erwartungen zur Premiere im Luzerner Theater ging, erlebte zu Beginn eine böse Überraschung. Die Bühne von Philipp Fürhofer ist in düster-dunkle Schwarz- und Grautöne getaucht. Vom Hintergrund her stakst eine Soldateska bedrohlich nach vorne an den Bühnenrand. Und wenn sich Ruggiero, der dem Liebeszauber der Zauberin Alcina verfällt, herauslöst und sich am Boden windet, ist es, als zoome eine Kamera nahe an das Kriegselend heran: Die Tontechnik lässt Ruggieros Röcheln nah an unserem Ohr knistern, bis er sich in das turmartig eingefasste Gebilde rettet, das sich als Palast der Zauberin Alcina entpuppt.
Aber dann folgt die erste freudige Überraschung. Denn wenn der mit schwenkbaren Flügelelementen erweiterte Turm sich dreht, ergeben sich verwirrend neue Raumkonstellationen, die von verspiegelten Wänden im Hintergrund ins Unendliche erweitert werden. Räume greifen kaleidoskopisch ineinander und lösen Realität ins Surreale auf. Wie hier die barocke Bühnenmaschinerie mit heutigen Mitteln interpretiert wird, ist in der Tat spektakulär.
Und das Spiel mit Sein und Schein dient der Psychologisierung der Figuren. Diese haben, wie im Fall der Soldateska, die auf Ruggieros Soldatenleben verweist, eine reale Seite, agieren wie Menschen aus Fleisch und Blut. Der Schein ist die Verunsicherung angesichts sich widersprechender Gefühle. Dazu gehört das Spiel mit Spiegelbildern, bei dem die Gegenüber an Glaswänden zum Anfassen nah aneinanderkleben und doch unerreichbar sind. Und dazu gehören fantastische Szenerien, in denen Alcinas Reich von schummriger Bar-Eleganz zu Schlachtfeld-Gespenstik entzaubert wird.
Grosse Ensembleleistung
Solch gespenstisch schöne Bilder fasst Regisseurin Nadja Loschky zu einem Bogen zusammen, der das Ende des Stücks konsequent in der Schwebe hält. Selbst da, wo Ruggiero zu seiner Verlobten zurückkehrt und den Zauber Alcinas bricht, wird diese keine Rachefurie, sondern bleibt die Frau, die an einer enttäuschten Liebe zerbricht – so menschlich, wie Händels Musik sie bis vor Schluss zeichnet. Wenn sie ihres Rokoko-Staats entkleidet wird und nur noch verletzliche Frau ohne Pomp und Perücke ist, dämmert Ruggiero in der überraschenden Schlussszene, dass diese Liebe echt war – als utopischer Gegenentwurf zur pragmatischen Realität, auf der die wieder aufmarschierende Soldateska umhertrampelt.
Zur starken Inszenierung kommt hinzu, dass die Besetzung der vielen Rollen einen vorzüglichen Leistungsausweis für das Luzerner Theater darstellt. Grossartig ist die Alcina der Sopranistin Jutta Maria Böhnert: In allen Schattierungen entfaltet sie den Reichtum, den ihre Arien emotional-verträumt und dramatisch aufbegehrend bieten – mit einer Stimme, die vibrierende Intensität mit Koloratur-Wendigkeit und hypnotisch entfalteten Spitzentönen verbindet.
Letzteres gilt atemberaubend auch für den schlanken Sopran von Dana Marbach, die als Morgana die amourösen Intrigenspiele der Nebenfiguren mit funkelnder Theatralität antreibt. Carolyn Dobbin als Ruggieros Verlobte Bradamante verteidigt mit natürlicher Klangrede Realismus gegen alle Zauberei, während sich Marie-Luise Dressens Ruggiero traumhaft zwischen den Welten bewegt: mit einer Stimme, die erregte Gebrochenheit ausdrückt und doch süffig strömen kann. Unter den Nebenrollen setzt Simone Stock als Oberto einen erfrischend energischen Akzent.
Das Luzerner Sinfonieorchester gestaltete unter Howard Arman den Barockgesang griffig und federnd-schlank mit. Aber im Ausdruck wirkte manches etwas verhalten und fehlte es an diesem dreistündigen Abend an Präzision. Aber wenn sie im Verlauf der weiteren Vorstellungen auch in diesem Punkt zulegt, bietet diese Produktion in der Tat alles fürs Auge und fürs Ohr.