Tragödie unausgelebter Leidenschaft

Martina Wohlthat, Neue Zürcher Zeitung (20.01.2014)

Eugen Onegin, 18.01.2014, Basel

Tschaikowskys «Eugen Onegin» am Theater Basel

Eine Situation, die jeder Raucher fürchtet: Man ist mit sich allein, und das Feuerzeug ist leer. Das erste Geräusch, das man in der Basler Neuinszenierung von Peter Tschaikowskys Oper «Eugen Onegin» hört, ist dieses Klicken und Ratschen des nutzlos gewordenen Feuerzeugs. Ungeduld und Frust angesichts der unfreiwilligen Rauchpause liegen da in der Gestik des Sängers Eung Kwang Lee, der den Onegin sonst als distanziert coolen Typ darstellt. Derweil zieht ein Raumpfleger im orangen Overall mit seinem Putzwagen ungerührt seine Kreise in einem Raum, der aussieht wie das Foyer einer Mehrzweckhalle. Das Bühnenbild von Ralf Käselau verströmt auf ganzer Breite Unbehaustheit, dagegen helfen auch die angedeuteten Birken, die Landschaftsbilder aus der russischen Provinz und die gefüllten Kompottgläser nicht.

Sinnlosigkeit des Daseins

Der Ofen ist beim Held dieser «lyrischen Szenen» auch im übertragenen Sinne aus. Die Regisseurin Corinna von Rad zeigt Onegin als einen sich langweilenden Provinz-Cowboy in Röhrenjeans und Lederjacke mit Schaffellkragen, der gut in einen Film von Aki Kaurismäki passen würde. Dass Onegin bereits hier der Ziel- und Sinnlosigkeit seines Daseins verfallen ist, mag man zunächst übersehen. Denn der erste Akt konzentriert sich ganz auf die als verträumtes pausbäckiges Mädchen bezaubernde Tatjana, die konsequente Anlage der Rolle des Onegin offenbart sich dagegen erst am Schluss: Als er sich schliesslich doch noch verliebt und von der inzwischen verheirateten Tatjana abgewiesen wird, erscheint Onegins einsames Warten vom Beginn in einem neuen Licht. Wir ahnen, dass sich seine Langeweile künftig aus der Fehlzündung dieser Liebe speisen wird.

Das alles ist von der Regie genau beobachtet und mit den Sängerinnen und Sängern des durchweg vorzüglich singenden Ensembles auf ebenso genaue Weise erarbeitet worden. Die Regisseurin Corinna von Rad hat sich zuvor am Theater Basel bereits mit Produktionen zwischen Schauspiel und Musiktheater einen Namen gemacht. Zuletzt entwarf sie im Schauspielhaus Zürich die Neuproduktion von «La vie de Bohème» nach dem gleichnamigen Kaurismäki-Film.

Davon scheint in ihrer Inszenierung von «Eugen Onegin» einiges nachzuklingen. In den Ballszenen mit dem Chor wiederum werden beinah marthalerische Akzente gesetzt, wenn Provinzgigolos ihre Schönen über die Bühne schieben (Choreografie: Thomas Stache) und sturzbetrunkene Ladys vom Bartresen purzeln. Die Frauen trudeln zwischen Karussellfahrt, Koketterie und Weihwasser durchs Leben. Männer wie der schwärmerische Biedermann Lenskij (Andrej Dunaev) sterben früh und sinnlos. Als sich die Gesellschaft aus der schäbigen Provinz ins neureiche St. Petersburger Ambiente des Fürsten Gremin verlagert, umrahmt teurer Designer-Chic die gleichen leeren Gesichter. Darin blitzt eine Trostlosigkeit auf, die aus dem satirischen Spiel der Inszenierung am Ende doch noch ein anrührendes Seelendrama macht.

Emotion ohne Sentimentalität

Die Tragödie unausgelebter Leidenschaft gipfelt in Tatjanas und Onegins Worten «Ach, das Glück war einst so nah.» Niemand hat zur rechten Zeit danach gegriffen – niemand ausser Tatjana. Wie die Sopranistin Sunyoung Seo die nächtliche Briefszene in der Blackbox der mit schwarzen Vorhängen verhüllten Bühne unter einem Ballett aus Scheinwerfern voll naiver Hingabe spielt, ist umwerfend. Ein Gemisch aus unstillbarer Sehnsucht und wilder Projektion, während eine ungerauchte Zigarette als Reliquie behutsam ins Tagebuch gelegt wird. Der kurz vor der Premiere eingesprungene Dirigent Erik Nielsen begleitete dies mit dem Sinfonieorchester Basel mit melodischen Schwüngen im Rhythmus des immer fieberhafter über das Papier kritzelnden Stifts. Flexible Tempi und ein lakonisch-leidenschaftlicher Musizierduktus liessen die Emotionen ohne Sentimentalität aufblühen.

Den komischsten Auftritt hat Karl-Heinz Brandt, der als alter Galan Triquet auf loriotsche Manier ein Ständchen mit am Boden schleifenden Hosenbeinen vorträgt. Die Zeit des Galanten indes ist hier längst vorbei, am Schluss klickt wieder ein Feuerzeug ins Leere.