Zwischen Trash und Tragik

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (20.01.2014)

Eugen Onegin, 18.01.2014, Basel

Peter Tschaikowskys lyrische Oper «Eugen Onegin» am Theater Basel

Am Anfang liebt sie ihn, und er liebt sie nicht, und am Ende ist es um­gekehrt. Diesen gnaden- und ausweg­losen Lauf nimmt Peter Tschaikowskys Oper «Eugen Onegin» nach dem gleich­namigen Versroman von Alexander Puschkin. Der arrogante Dandy Eugen Onegin entscheidet sich zu Beginn für die melancholische Tatjana und überlässt die lebenslustige Olga («das Kind») seinem Freund Lenskij, aber es ist mehr ein Spiel als ein tiefes Gefühl. Und am Schluss flammt zwar Tatjanas Leidenschaft für Onegin wieder auf, aber sie kann diese nicht zulassen, weil sie längst mit dem Fürsten Gremin ver­heiratet ist. Eugen bleibt mit seiner ­Verzweiflung allein. «Welch ein bitteres Los!»

In der Basler Inszenierung der ­bisher vor allem mit Schauspielregie ­beschäftigten, in der Oper debütierenden Corinna von Rad (Bühne: Rolf Käse­lau) hängt das weiss-grüne Leuchtschild «Notausgang» wie ein Mahnmal über dem rechteckigen Portal auf der gros­sen Theaterbühne. Es steht für die Ausweglosigkeit der Situation, in welcher die Zeit nicht Wunden heilt, sondern sie noch vertieft. Ganz zu Beginn, noch vor den ersten Tönen der Ouver­türe, sehen wir Onegin (Eung Kwang Lee) in seiner Lederjacke, wie er sich eine Zigarette anzünden will und schon am Feuerzeug scheitert. Ein Strassenkehrer, dem man später wieder begegnen wird (Andrew Murphy), geht im orangen Overall ­seiner Arbeit nach, während aus dem Off der Bauernchor ertönt. Ein Bild der Einsamkeit.

Huren und Saufen

Dann – inzwischen ist das lyrisch-­weiche Orchestervorspiel in g-Moll vorbei – werden wir Zeugen einer landwirtschaftlichen Produktionsstätte, wo sich die älteren Frauen (Sanja Anastasia als Larina, Rita Ahonen als Filipjewna) in Handarbeit der Erzeugung von Fruchtsaft widmen. Oben im Garten stehen russische Birken und ein ausgestopfter Wolf, da tapst auch mal ein Braunbär herum. Wir sind auf dem russischen Land, dem endlosen! Die Frauen trippeln und tänzeln, dass man glauben kann, sie wären auf Ecstasy. Da stürmen die Bauern in ihren bunten Gewändern (Kostüme: Sabine Blickenstorfer) herein, singen grobschlächtig ihr «Wainu»­-Lied und greifen gierig nach den Flaschen. Nur Tatjana (Sunyoung Seo) hält sich fern von dem nervösen Getue und versenkt sich in ihre Lektüre, während ihre Schwester Olga (Larissa Schmidt) ganz auf Munterkeit macht.

Dass das Volk derb und das Bürgertum dekadent ist und dass niemand ausser Huren und Saufen etwas im Sinn hat, ist eine Leitidee der Inszenierung. Die Regisseurin zückt diese schon reichlich abgegriffene Karte wieder im zweiten Akt in der Festszene im Hause Larin, wo Onegin die ihn vergötternde Tatjana beleidigt, indem er sich demonstrativ an Olga heranmacht, was wiederum ­deren Freund Lenskij (Andrej Dunaev) provoziert. Ein Duell ist die Folge, bei dem Lenskij den Tod erleidet.

Das Fest verkommt zur Alkohol­orgie, selbst der Walzer taumelt ins Hochprozentige. Es wird gebechert, was das Zeug hält. Den wackeren Sänger Triquet (Karl-Heinz Brandt) erlebt man nur noch mit Schnapsgläsern in der Hand. In der Duellszene wird er kurzerhand zum Sekundanten des ­Eugen Onegin, der im Libretto eigentlich Guillot heisst, fast gleich wie der Erfinder der Guillotine. Nach dem töd­lichen Schuss auf Lenskij stürzt der Sekun­dant hinaus und übergibt sich. Übrigens sang Brandt diese Partie schon in der letzten Basler Inszenierung im Jahr 2000, während Rita Ahonen ­damals die Larina verkörperte.

Lederjacke, Raucher, was sonst?

Wir nehmen zugunsten des Produktionsteams an, die Ansammlung von Alltagskleidung, Abfall, Alkohol, Zigaretten, zerbrochenen Gläsern und Stolper- und Slapstickaktionen in dieser Inszenierung der «lyrischen Szenen» von Peter Tschaikowsky diene dazu, die eigentliche Hauptfigur auf das Heiligenpodest zu stellen: Tatjana. Dabei bleibt vollkommen rätselhaft, was das Dämonische an diesem Mann Eugen Onegin ausmacht. Er wirkt eher wie ein Halbstarker als ein «aus dem Ei gepellter Dandy» mit «glänzenden Manieren» (Puschkin).

Wie wie zur Bestätigung dieser Annahme wird Tatjana einmal auf einen Stuhl gesetzt, der seinerseits auf einem Tisch steht. Es ist eine der vielen Inszenierungsideen, die irgendwie nachvollziehbar, aber alles andere als zwingend sind, ebenso wie im ersten Akt die elf aus der Höhe herunterfahrenden Lampen, die auch Glocken oder Kerzen ­ähneln. Oder die Zahlen an der Wand, die möglicherweise auf die Anzahl Produktionseinheiten im Saftladen der Bäuerin Larina bezogen sind. Oder das Karussell im dritten Bild, von dem die Mädchen (beziehungsweise die meist älteren Damen des Theaterchors) plump herunterfallen.

Dies alles beschäftigt zwar das Auge, trägt aber nicht dazu bei, der ­Inszenierung Stil, Poesie, Atmosphäre, emotionale Qualität zu verleihen. Und gelungene Chorregie sieht nun einmal anders aus, da hat auch die Mitwirkung eines Choreografen (Thomas Stache) nicht viel genützt.

Koreanisches Trio

Einzig das Können der Bühnen­akteure rettet die Aufführung davor, brutal abzustürzen. Allen voran zu ­nennen ist da die Sopranistin Sunyoung Seo. Sie sorgt schon mit ihren ersten ­Tönen und dann erst recht mit der «Briefarie», in welcher sie ihre Liebe zu Onegin gesteht, für Gänsehaut. Ihr «bin verliebt» singt sie mehr für sich selbst als für die alte Njanja – packend. Bis zuletzt wird Sunyoung Seo mit ihrer grossen, in allen Lagen lupenrein geführten Stimme das Publikum in den Bann ziehen und auch als Schauspielerin fesseln. Grossartig etwa, wie sie im dritten Akt den Zwiespalt zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Leidenschaft und Härte in Gestik und Mimik zum Ausdruck bringt.

Ihren Partner Onegin singt Eung Kwang Lee mit stabil sitzendem Bariton und nicht nachlassender stimmlicher Kondition. Die klangfarblichen Valeurs seiner sauber geführten Stimme könnten mit wachsender Routine noch vielfältiger werden. Dritter im südkoreanischen Sänger-Bunde ist Liang Li, der die kurze und dankbare Partie des Fürsten Gremin mit mächtigen Bass wiedergibt.

Onegins Freund und Widersacher Lenskij wurde in der Premiere von Andrej Dunaev – dem einzigen Russen in der russisch gesungenen Produk­tion – verkörpert, und sein strahlkräftiger, ebenmässig geführter Tenor bestach nicht nur in der berühmten Arie «Wohin seid ihr geflogen, ihr goldnen Tage meines Lenzes» im zweiten Akt. Larissa Schmidt lieh der Olga ihre markant zeichnende Altstimme, Sanja Anastasia war die bewusst outrierende Larina.

Die musikalische Leitung hatte kurzfristig für den erkrankten Giuliano Betta der junge Amerikaner Erik Nielsen übernommen. Er scheint mühelos mit dem Sinfonieorchester Basel (brillante Polonaise!), dem von Henryk Polus einstudierten Theaterchor und den Solisten eine Linie gefunden zu haben. Nicht anders ist zu erklären, dass diese Opernpremiere ohne Pannen und nennenswerte Wackler über die Bühne ging und vokal wie orchestral viele Qualitäten zeigte, die auf der Ebene der Ins­zenierung kein Pendant hatten.