Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt (03.02.2014)
Am Theater St. Gallen stösst Amilcare Ponchiellis Oper «La Gioconda» das Premierenpublikum vor den Kopf: Mit einer knallharten Folterszene zu lieblicher Musik. Reichen Applaus hingegen verdienen die stimmstarken Solisten.
Könnte es nicht einfach harmlos heiter sein – so heiter, wie der Operntitel «La Gioconda» («die Heitere») es vermuten liesse und wie die Musik es in diesen Minuten vorgaukelt? So unverfänglich wie der knappe Satz der Inhaltsangabe: «Zur Unterhaltung der Gäste wird ein Tanz aufgeführt.» Normalerweise eine Einladung an alle, auch die im Saal, sich zurückzulehnen. Bevor das Drama seinen unvermeidlichen Lauf nimmt, gibt es noch einen Augenschmaus. Zerstreuung, aufwendige Kostüme; Anmut, rassiges Temperament, je nachdem. Nichts, was die Handlung weiterbringen muss. Erst recht nichts, was zum Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung wird.
In St. Gallen ist es an diesem Premierenabend anders. Zur Unterhaltung der Gäste im Haus des Staatsmanns Alvise Badoero – vorwiegend Uniformierte, dazu ein paar dekorative Damen – wird eine Frau aus dem Volk (das sich draussen vor den Fenstern die Nasen platt drückt) an den Haaren hereingezerrt und brutal vorgeführt. Sie tanzt, zu zart zerbrechlicher Musik, den «Tanz der Stunden». Ein Hit fürs Klassiktelefon; ein Tortenhersteller wirbt mit der Melodie für Tiefkühlware. Tatsächlich hat die Szene die Wirkung eines Kälteschocks.
Peinigende Augenblicke
Mit blossem Oberkörper und Offiziersmütze ist Beate Vollack, künftige Leiterin der Sparte Tanz am Theater St. Gallen, minutenlang eine arme Hündin. Stellvertretend für alle Gefolterten und Erniedrigten dieser Welt wird sie an die lederne Leine genommen, von den gaffenden Herren vergewaltigt, mit einem finalen Pistolenschuss entsorgt. Hier ist die Oper gewaltsam in der Gegenwart angekommen. Lautstark macht sich das Publikum mit Buhrufen Luft; ein paar Stimmen halten ihre «Brava!» dagegen.
Dabei bricht das skandalöse Zwischenspiel keineswegs aus heiterem Himmel über die Zuschauer im Saal herein. Rosetta Cucchi versetzt die ausserhalb Italiens kaum gespielte Oper von Amilcare Ponchielli, Lehrer des wesentlich berühmteren Puccini, vom 17. Jahrhundert in die blutigen Jahre des Faschismus und der Partisanenkämpfe. Die Strassensängerin Gioconda, überragend verkörpert und mit einer Fülle emotionaler Farben ausgestattet von Katrin Adel, wird nicht nur im Konflikt zwischen Tochterpflicht und unglücklicher Liebe zerrieben. Sie bekennt zudem politisch Farbe. Das vertieft die Psychologie fast aller Figuren.
Ein Riss geht durchs Stück
Wer im Venedig um das Jahr 1943 das Sagen hat und wie Andersdenkende zum Schweigen gebracht werden, zeigt sich von Anfang an recht eindeutig an Uniformen, Plakaten und Parolen, am Gefuchtel mit Gewehren und Pistolen (Bühne: Tiziano Santi, Kostüme: Claudia Pernigotti). So wundert es wenig, wenn sie zum Einsatz kommen. Nur der Moment schockiert. Böser und zynischer kann «Unterhaltung» nicht gedacht werden, wenngleich die Inszenierung nur drastisch fortführt, was auf dem Fest gespielt wird: eine Orgie nackter Gewalt. Gerade hat der Gastgeber seine untreue Gattin Laura zum Selbstmord mit Gift gezwungen; auch das soll dem Spektakel seiner Macht dienen.
Der Oper als ganzer und ihren herausragenden Solisten wird die szenische Grenzüberschreitung allerdings zum Verhängnis: ein Tanz auf der Rasierklinge. Sie schneidet tief ins Fleisch. Der Abend zerfällt in ein packendes Zuvor und ein beklemmendes Danach; dies immerhin bei durchgehender musikalischer Spannung und überzeugender Detailarbeit, sowohl im Orchestergraben als auch in der Personenführung auf der Bühne.
Fotografische Bildausschnitte
Die jähen Stimmungswechsel, wie sie die Partitur vorsieht, sind bei Dirigent Pietro Rizzo in guten Händen; das Sinfonieorchester St. Gallen tanzt wach und willig auf den schmalen Grat zwischen betörender Schönheit und abgründigen Leidenschaften. Chor und Solisten profitieren davon, dass Rosetta Cucchi Menschen aus Fleisch und Blut auf die Bühne stellt, in Bildern, die filmisch gedacht sind – mal in engen Zooms und Ausschnitten, mal in gefrierenden Momenten. Zwangsläufig überwiegen im Lichtdesign von Andreas Enzler die düsteren Szenerien.
So schön, dass es wehtut
Mag der Tabubruch im 3. Akt mit seinen Anleihen bei Bildern aus Abu Ghraib sich stark in den Vordergrund schieben – davon abgesehen setzt die Regie enorme sängerische Energien frei; sei es bei der ausdauernd facettenreichen Katrin Adel, sei es bei Paolo Gavanelli in der Rolle ihres kruden Verfolgers Barnaba. Reichlich Applaus ernteten auch Nora Sourouzian und Tenor Stefano La Colla als Liebespaar Laura und Enzo: Sie bringen im düsteren Umfeld noch einmal den Belcanto zum Blühen, so wie Susanne Gritschneder als blinde Mutter den frommen Glauben. So schön, dass es wehtun muss.