Weder Triumph noch Marsch

Weder Triumph noch Marsch, Tages-Anzeiger (04.03.2014)

Aida, 02.03.2014, Zürich

Verdis «Aida» wird im Zürcher Opernhaus zur Antikriegsoper. Dafür sorgen Regisseurin Tatjana Gürbaca und Dirigent Fabio Luisi mit einer Interpretation, die ganz auf die Gefühle und Traumata der Protagonisten ausgerichtet ist.

Geehrt soll er werden, der Retter des Vaterlandes, ein Orden wartet auf ihn - aber Radamès zieht sich die Jacke übers Gesicht. Zuvor hatte er schon den berühmtesten Triumphmarsch der Operngeschichte vor dem Fernseher verdöst, geplagt von den Bildern des siegreichen Krieges. Es waren Folterbilder wie aus Abu Ghraib, Bilder von Erschiessungen, von Kriegsversehrten in Rollstühlen und Feuersbrünsten. Man brauchte den Wikipedia-Eintrag zur posttraumatischen Belastungsstörung im Programmheft nicht zu lesen, um zu verstehen, woran dieser Radamès leidet.

Kein Triumph also in der neuen Zürcher «Aida», und auch kein Marsch über die Bühne. Aber ebenso wenig geht es um eine plumpe Demontage der zu Ikonen erstarrten (Klang-)Bilder. Dafür haben sie zu genau gearbeitet, der Zürcher Generalmusikdirektor Fabio Luisi und die Regisseurin Tatjana Gürbaca: Sie wollten dem 1871 in Kairo uraufgeführten Werk keine Antisicht überstülpen, sondern fanden in Giuseppe Verdis Briefen und in seiner Partitur deutliche Hinweise auf das, worum es ihm hier ging. Nämlich um eine Kritik an der damals gerade aufflammenden preussischen Kriegslust, um ein Plädoyer für die Verteidigung der kulturellen Identität. Und um eine Musik, die zwar die Erwartungen der Zeit opulent zu bedienen wusste - aber diese Opulenz gleichzeitig schon mit den ersten, fragenden Violin-Gesten ins Fragile wendete.

Um das zu zeigen, ist Fabio Luisi mit seinem Sinn fürs Kammermusikalische nun zweifellos der Richtige, und die aufregendsten Momente dieser «Aida» finden im Orchestergraben statt: etwa, wenn Verdi in der zweiten Hälfte der Oper immer wieder Instrumente allein lässt, wenn sich die Klangfarben aufsplittern statt amalgamieren. Da spiegelt sich die Vereinzelung der Figuren, und die Musikerinnen und Musiker der Philharmonia Zürich nutzen ihre Soli nicht nur für Schauläufe, sondern für ergreifende Porträts prekärer Seelenzustände. Wenn es doch einmal pompös wird, gerade im Triumphmarsch, hört man gleichzeitig die Banalität dieses Pomps - und es klingt nicht pädagogisch, sondern wahr.

Gebüschelte Blumen

Auch Tatjana Gürbaca trifft den Ton in einer Inszenierung, die vor allem von starken Bildern lebt. Vom raffinierten Bühnenbild zunächst, für das Klaus Grünberg die Lounge eines Potentaten entworfen hat, mit Polstergarnitur und Tüllwänden, die je nach Beleuchtung durchsichtig oder solid aussehen. Die Figuren wirken hinter diesen Wänden wie Schatten oder ganz real; als Schatten ihrer selbst sitzen sie zuweilen auch auf den Polstern, während im Hintergrund das Weltgeschehen respektive der differenziert geführte Chor tobt.

Oft singt dieser Chor auch ganz hinter der Szene (klangstark, wenn auch nicht immer präzis). Das war Verdis Idee, und sie passt zu diesen Bildern, die ganz auf das Innenleben der Protagonisten fokussiert sind. Umgekehrt erscheinen diese Protagonisten selbst oft wie Teile der Innendekorationen: die Pharaonentochter Amneris zum Beispiel mit ihrem Whiskyglas und dem schwarz-weiss-goldenen Kleid, das Silke Willrett für sie entworfen hat. Oder Ramfis, der Priester, der sich seinen schönen Anzug nicht schmutzig machen muss bei seinen schmutzigen Geschäften.

Dass diese Welt in Ordnung bleibt, wenigstens äusserlich: Dafür sorgt Aida, die äthiopische Königstochter und ägyptische Sklavin, die den Boden putzt und die Blumen büschelt, die den Kopf beugt vor Amneris oder dem eigenen rachelustigen Vater, die Radamès liebt und verrät und ihre Erinnerungen und Utopien sieht, als seien sie wahr. Latonia Moore gibt diese Aida, und sie ist weit über das Titelheldinnentum hinaus das Zentrum und die Seele dieser Aufführung. In nicht weniger als fünf verschiedenen Produktionen hat die 34-jährige Texanerin ihre Paraderolle in den vergangenen Monaten gesungen, aber da ist nichts Routiniertes in ihrer verblüffend gelassenen Interpretation. So mühelos wie intensiv entwickelt sie ihre Phrasen aus einer vollen Tiefe heraus, und ihre Spitzentöne klingen nie überambitioniert, sondern strahlen wie von selbst. Wer weiss, vielleicht wirkt da die frühe Gospelprägung nach, vielleicht ist es auch nur die Vertrautheit mit einer Figur und einer Musik, die Moore ganz selbstverständlich zu entsprechen scheinen.

Zusammengewürfelte Sänger

Die anderen Protagonisten klingen weniger entspannt. Aleksandrs Antonenko als Radamès beginnt den Abend als Tenore spinto im wörtlichen Sinn, mit einer Stimme, die über die eigenen Möglichkeiten hinausgetrieben wird; aber je schlechter es seiner Figur geht, desto facettenreicher wird seine Gestaltung.

Eine ähnliche Entwicklung macht auch Iano Tamars Amneris durch; ihrem eher leisen Mezzosopran glaubt man weder Wut noch Grausamkeit, aber je weiter sie kommt in der Einsicht, dass sie der Liebe zwischen Radamès und Aida nichts anhaben kann, desto berührender singt sie. Gar nichts auszusetzen gibt es bei Andrzej Dobber, der Aidas Vater mit vokaler Wucht und Wärme ausstattet, und Rafal Siwek als eiskaltem Priester. Und doch fehlt etwas: das Ensemblegefühl, die vokale Interaktion. Man hat die Protagonisten als gefragte Vertreter ihrer Rollen aus allen Ecken der Welt und der Verdi-Interpretation zusammengesucht (nur die kleinsten Partien übernehmen mit Pavel Daniluk und Sen Guo Ensemblemitglieder). Und so sorgfältig die Charaktere entwickelt und begleitet werden: Es bleibt der Eindruck des Zusammengewürfelten.

Der Applaus war denn auch eher temperiert, heftig gerieten nur die Buhs für die Regie. Erstaunlich heftig: Denn ästhetisch dürfte diese «Aida» niemanden erschrecken, in ihrer Deutung ist sie stiller und weit weniger radikal als Tatjana Gürbacas letztjähriger «Rigoletto». Und wenn die angehenden Soldaten mit den Armen vor der Nase wie Elefanten durch den Raum blödeln, wenn sich so ein «Aida»-Klischee mit der Kritik an der Grosstuerei und der Gedankenlosigkeit der Kriegstreiber kurzschliesst: Dann kann man mit dieser Sicht der Dinge gerade in der heutigen Weltlage eigentlich nur einverstanden sein.