Christian Fluri, Neue Luzerner Zeitung (21.02.2014)
Grosse Präsenz für einen grossen Musiker: In Basel wird Heinz Holligers Oper «Schneewittchen» gespielt – auch Lucerne Festival rückt ihn diesen Sommer ins Zentrum.
Er mag die Literaturoper nicht. «Ein Theaterstück veropern», das klingt für ihn nach Zerstörung des Textes. Dasselbe gelte für den Begriff des «Vertonens». Herausragende, in sich geschlossene Literatur «bedarf keiner Musik»: Heinz Holligers Aussagen sind von einer wohltuenden Radikalität. Und sie bauen auf ein – bis ins sprachliche Detail – genaues Nachdenken. Beides, die Radikalität und die Genauigkeit, ist auch seiner vielschichtigen Musik eigen.
Holliger dirigiert selber
Wir trafen Heinz Holliger, den bedeutenden Komponisten, Dirigenten und Oboisten, im Theater Basel. Dort wird derzeit die Oper «Schneewittchen» nach Robert Walsers gleichnamigem Dramolett von 1901 gespielt. Er komponierte sie im Auftrag der Oper Zürich, wo sie 1998 uraufgeführt wurde. In Basel inszeniert der Theatermagier Achim Freyer, der Regisseur, Bühnen-, Kostümbildner und bildende Künstler. Wie in Zürich dirigiert Holliger seine Oper in Basel selber.
Weshalb eignet sich nun Walsers Dramolett als Libretto? Weil seine Reflexion über das Märchen kein linearer, geschlossener Text sei, erklärt Heinz Holliger. Für ihn weisen manche Sätze Walsers auf Beckett voraus. «Die eigentlich handelnden Figuren sind die Wörter. Der Klang der Wörter und kurzen Phrasen ist massgebender als ein Handlungsstrang.» Für Holliger schreit der Text geradezu nach Musik. «Walser zeigt sich im Schreiben als hoch musikalisch.» Und der an der Sprachgrenze – in Biel – aufgewachsene Schriftsteller habe die Sinnlichkeit und das Spielerische der romanischen Sprachen ins Deutsche gebracht.
Archetypische Figuren
Walser dringt in die Tiefenschichten des Märchens vor. Die Geschichte mit den archetypischen Figuren Schneewittchen, Königin, Jäger, Prinz und Vater König beginnt lange nach dem Märchen, sie könnte im Totenreich spielen. Immer neu wird die Frage gestellt, weshalb die Königin ihre Tochter Schneewittchen – dieses Symbol der Reinheit – ermorden liess. Walser lässt die Figuren einen diskursiven Faden spinnen, er reisst, ein neuer wird gesponnen. Der letzte Satz Schneewittchens ist: «Vater kommt, begleitet alle uns hinein.»
Zieht es damit die Figuren in sich hinein, in sein Reich des Jenseits, wo es im Sarg liegt? Beginnt das Spiel wieder neu?
«‹Schneewittchen› ist ein Theater im Theater im Theater und ein Märchen im Märchen im Märchen ...» Das faszinierte Holliger, hier begann sein Denken darüber, das Dramolett in Theater und Musik zu bringen. Die Musik ist für ihn auch deshalb die richtige künstlerische Form, «weil nur sie ein eigenes Zeitempfinden entwickeln kann». Nur sie kann Zeit stehen lassen. «Ein 40-Sekunden-Cellostück von Anton Webern dauert emotional etwa drei Stunden.»
Holligers Oper ist eigentlich keine Vertonung des Märchens. Er umspielt die Wörter, die Sätze, lotet deren semantische Schichten mit Musik aus. Er verknüpft die Worte mit faszinierenden Klängen. «Meine Musik macht mit den Klängen das Gleiche wie Walser mit seinen Worten. Walser hat mich mit seiner Art zu schreiben gezwungen, eher im Sinne eines Mozart zu komponieren, in schnellen Tempi.» Dies stehe im Gegensatz zu seiner früheren, teils sehr langsamen Musik. Anders in «Schneewittchen»: da ist stete Bewegung, sind schnell wechselnde Seelenzustände, oder man hört die richtungslose Bewegung des Schneefalls, das ausgedehnte Weiss.
Präzises musikalisches Denken
Die Oper ist äusserlich in klassischer fünfteiliger Form gehalten. Mozart, dessen Opern Holliger sehr schätzt, ist dabei ein wichtiger Orientierungspunkt. Holliger hat für das klassische Gesangsquintett – Sopran, Mezzosopran, Tenor, Bariton, Bass – und für ein 30-köpfiges Kammerorchester mit vier Schlagzeugern geschrieben. Es gibt von den Solisten gestaltete Chorpartien, Dialoge, eine grosse Arie des Schneewittchens.
Anlass fürs Theater Basel, «Schneewittchen» auf den Spielplan zu setzen, ist auch der 75. Geburtstag des Komponisten am kommenden 21. Mai. Und auch Lucerne Festival setzt im kommenden Sommer einen Holliger-Schwerpunkt.