«Schneewittchen» im Schneegestöber

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (22.02.2014)

Schneewittchen, 20.02.2014, Basel

Zum 75. Geburtstag von Heinz Holliger schenkt das Theater Basel dem Komponisten, Oboisten und Dirigenten eine Neuproduktion seines 1998 urauf geführten Musik theaters «Schneewittchen».

«Vorsicht Glatteis» steht auf einem geschätzten Dutzend Tafeln rund ums Basler Theater. Kaum je diesen Winter ist das Thermometer aber unter Null gefallen. «Schnee» klingt wie ein Wort aus dem Ferienprospekt. Drinnen aber, in der Inszenierung von Regie-Altmeister Achim Freyer, schneit es. Pausenlos. Aus allen Richtungen. Videoprojektionen schaffen rasante Schneestürme, Discokugeln den Rausch tanzender Schneeflocken, die Schneewittchen wie ein Kind mit erhobenen Armen begrüsst.

Dabei ist dieses Schneewittchen kein Kind mehr. Wir sind mit Robert Walser, den der Schweizer Komponist und Dirigent Holliger als Textvorlage nutzte, im psychologisch heiss und kalt aufgeladenen Bewältigungsprozess der im Märchen begangenen Verbrechen. Schneewittchen, Königin, Jäger, Prinz im Reigen gegenseitiger Beschuldigungen, erotischer Verstrickungen, Rechtfertigungen, halbherziger Entschuldigungen und ganzherziger Suche nach Verzeihung und Liebe, die schnell umschlagen kann in Hass.

Empfohlen erst «ab 16 Jahren»

Der Schnee passt. Kalt ist die Atmosphäre. Kalt ist Holligers Musik. Glasharfe und Celesta sorgen für faszinierend schöne, unheimlich-unwirkliche Klänge. Holliger holt zauberhaft-zärtliche Klänge aus dem Orchester. Aber auch das Gegenteil: Aufgeladene Emotionalität, expressive Sinnlichkeit, eruptive Gewaltausbrüche.

Ein «Schneewittchen» nicht für Kinder: «Empfohlen ab 16 Jahren» schreibt das Theater Basel auf die Programme. Nicht weil es besonders krass wäre, einfach als Hinweis, dass dieses «Schneewittchen» kein Kindermärchen ist; wie es schon der junge Walser verstand: Sein Dramolett von 1901 war weniger Theaterstück, denn Poesie und «nur für künstlerisch geniessende Erwachsene», wie er seinem Verleger Rowohlt schrieb.

Feuerwerk an optischen Reizen

Trotz des permanenten Schneegestöbers: Alles andere als kalt und weiss ist Achim Freyers Inszenierung. Wie üblich mobilisiert der bald 80-jährige deutsche Regisseur und Künstler einen üppigen Katalog an Farben, Formen und Bildideen ohne tieferen Sinn: Nackte, wuchernde Fleischberge mit überlangen Penissen; Tiere, Monster, kryptische Objekte, pervertierte Musikanten. Auch die Basler Fasnacht dürfte in den grotesk überhöhten Masken ihren Niederschlag gefunden haben, ebenso wie das Vorbild Jean Tinguely in den witzig zu grotesken Statuen verschachtelten Figuren.

Spiegel vervielfachen dieses Feuerwerk an optischen Reizen zu unheimlichen Kaleidoskopen. Auch Schneewittchen hat Freyer verdoppelt, und gibt dem Spiegelbild Esther Lee auch ein paar Sätze zu singen.

Überforderte Titelrolle

Anu Komsi, die Sängerin der Titelrolle, dürfte darüber nicht unglücklich gewesen sein. Holliger trieb die Partie bei der Premiere in fast permanente Überforderung, der Komsis Stimme je länger, je weniger gewachsen war. Bald klangen ihre Höhen nur noch schrill und forciert. Zwischentöne, die diese hier eben nicht nur unschuldige Figur haben könnte, gingen dabei oft verloren. Weit besser die in Chur aufgewachsene Maria Riccarda Wesseling die Mutter: souverän im Beherrschen der stimmlichen Mittel, differenziert in Farbe und Ausdruck, zudem vorbildlich textverständlich. Tadellos füllten auch Christopher Bolduc als Jäger wie Mark Milhofer als nervös trippelnder Prinz ihre Rollen aus.