Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (22.02.2014)
«Schneewittchen», die Oper Heinz Holligers, im Theater Basel
Zu einem grossartigen Abend wurde die Premiere von «Schneewittchen», der Oper Heinz Holligers, im Theater Basel. Und das, obwohl – oder gerade weil – sich Bild und Klang gleichsam im Weg stehen.
Was für ein wunderbares Stück Musiktheater. Allein der abschliessende Epilog, ein Choral mit sieben Variationen, könnte einen süchtig machen mit seinen zart gehauchten, gläsernen Klängen. Schön ist diese Musik, es gibt da nun einmal kein anderes Wort, und zugleich steht sie ganz und gar auf der Höhe unserer Tage. So ist es eben bei Heinz Holliger, dem demnächst 75-jährigen Komponisten, Oboisten, Dirigenten, und seiner Oper «Schneewittchen».
Als Alexander Pereira das Wiener Konzerthaus leitete, liess er sich in Sachen neue Musik von kompetenter Seite beraten, zum Beispiel von Heinz Holliger. So lag es nahe, dass Holliger von Pereira, der 1991 die Intendanz des Opernhauses Zürich angetreten hatte, den Auftrag zur Komposition einer abendfüllenden Oper erhielt. «Schneewittchen» auf ein Dramolett von Robert Walser entstand in den Jahren 1997/98, im Herbst 1998 kam das Stück unter der musikalischen Leitung des Komponisten und mit dem Regisseur Reto Nickler zu erfolgreicher Uraufführung. Allerdings hatte Pereira nur gerade vier Vorstellungen angesetzt; sie waren rasch ausverkauft, und eine kurzfristige Verlängerung des Projekts liess sich nicht realisieren. Immerhin kam es nach der CD-Aufnahme mit der ausgesprochen überzeugenden Zürcher Besetzung im Januar 1999 zu einer Wiederaufnahme an der Oper Zürich, doch der Hype von 1998 liess sich im Herbst 2002 nicht einfach wiederholen. Seither ist es still geblieben um «Schneewittchen» – was kein Mensch verstehen kann.
Umso verdienstvoller, dass sich das Theater Basel, dessen Direktor Georges Delnon für seine Neigung zum neuen Musiktheater bekannt ist, Holligers «Schneewittchen» jetzt ein zweites Mal zur Diskussion stellt. Und dies wiederum mit dem Komponisten am Pult, im Szenischen nun aber ebenfalls mit einem Grossmeister, nämlich mit keinem Geringeren als Achim Freyer. Das hat seine besonders reizvolle Bewandtnis. Die Jahre um und nach 1990 waren die Zeit der geflüsterten Musiktheaterstücke; «Die Blinden» von Beat Furrer (1989), Salvatore Sciarrinos Einakter «Luci mie traditrici» (1998) oder «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern» von Helmut Lachenmann (1997) wären hier zu nennen – und dies letztere Stück hat Freyer bei der Hamburger Uraufführung in Szene gesetzt. So hat es seine eigene Logik, dass sich der Bildertheatermeister jetzt – unerhört rüstig mit seinen bald achtzig Jahren – Holligers «Schneewittchen» und damit gleichsam der Antwort auf die Märchenoper Lachenmanns zuwendet.
Die Lust am Bild
Er tut das mit jener starken Hand, für die er geschätzt wird, und mit der von ihm seit je gepflegten Autonomie, aber doch in engem Kontakt zu Text und Musik. «Schneewittchen» ist ja nicht «Schneewittchen», bei Holliger wird nicht einfach das Märchen erzählt. So ist es schon bei Walser nicht; er beginnt dort, wo die Gebrüder Grimm enden. Walser setzt das Märchen als bekannt voraus und denkt es weiter, indem er die Figuren (mit Ausnahme der gerade ausser Haus weilenden sieben Zwerge) das Geschehen reflektieren und es auf Möglichkeiten des Verständnisses hin abklopfen lässt. Wer mit wem wie steht, was in welcher Weise hätte ausgehen sollen – das wird in immer wieder neuen Konstellationen bedacht und durchgespielt. Zurück auf Platz eins, lautet die geheime Formel von Szene zu Szene, und genau so geht Freyer als Regisseur und Bühnenbildner vor (die Kostüme stammen von Amanda Freyer, der Tochter des Künstlers).
Er hat seinen eigenen, unabhängigen, in sich kreisenden Verlauf entwickelt, der sich mit seinen Wiederholungen neben das Stück von Walser und Holliger stellt und dessen abstrakte, nichtnarrative Seite unterstreicht. Schon beim Aufsuchen des Sitzplatzes begegnen einem im Zuschauerraum die Figuren des Abends mit ihren riesengrossen Köpfen, die von verschiedenen Seiten betrachtet werden können und unterschiedliche Wahrnehmungen ermöglichen – so, wie es bei Walser geschieht. Aus Luken über dem Orchestergraben erheben sich diese Figuren abermals, nun aber reduziert auf die Grösse von Stabpuppen. Und nicht zuletzt sind sie auf der Bühne versammelt neben einer Fülle von Requisiten wie dem giftigen Kamm, der frisch-roten Leber und den glühenden Schuhen, die ans Märchen erinnern. Besonders nett ist da der ganz zum Schluss auftretende König, der bei Holliger noch tiefer singt als Fafner, aber ähnlich klingt und darum wie der liegende und besitzende Wurm aus «Siegfried» die von Wagner gewünschte Flüstertüre vor den Riesenmund hält. Gespielt aber oder gar verkörpert wird nicht eigentlich, die Bewegungen auf der Bühne gleichen eher einer Choreografie und gehorchen ihren eigenen Gesetzen. In ihrem unerhörten optischen Reichtum und ihren an die Vergeblichkeit menschlichen Tuns erinnernden Iterationen erinnern sie nicht wenig an die ab 1987 vorgestellten «Europeras» von John Cage.
Womit die problematische Seite des Unternehmens angesprochen wäre. Freyers überbordende Bilderlust mag im Ansatz der ebenfalls überschiessenden musikalischen Phantasie Holligers verwandt sein – der feinsinnigen Musik von «Schneewittchen» tut sie Gewalt an. Und sie verstärkt damit ein Problem dieser grossartigen Partitur. Die Basler Aufführung ist eingebunden in ein Projekt, das als äusserst begrüssenswerte Kooperation zwischen dem Theater und der Paul-Sacher-Stiftung, die den Vorlass Holligers erhalten hat, entstanden ist. Neben Vorträgen und Gesprächen zeigt eine von der Musikwissenschafterin Heidy Zimmermann gestaltete Ausstellung im Foyer, woher «Schneewittchen» kommt. Nämlich von einer Neigung Holligers zu Walser, die in die frühe Jugend des Komponisten zurückreicht. Und von einer verstärkten Hinwendung zum Dichter, die 1990/91 in den Liederzyklus «Beiseit» mündete, eine eigentliche Vorstudie zu «Schneewittchen». Von besonderem Interesse ist dabei die Information, dass Holliger seine Oper in einem Zug durchkomponiert, dabei aber allein die Singstimmen notiert hat, während die Ausführung der Partitur für das solistisch besetzte Kammerensemble in einem zweiten Arbeitsschritt entstanden ist.
Befruchtung und Gefahr
Das heisst nun aber nicht, dass die ganz dem Sprachverlauf folgenden, allerdings sehr gezackt geführten Singstimmen die Hauptsache wären, im Gegenteil. Erst aus dem Zusammenspiel zwischen dem Gesungenen mit seiner expliziten Bedeutung und dem Instrumentalen mit seinen eher impliziten Kommentaren ergibt sich der Reiz dieser Musik. Ganz ausgeprägt kann das wahrnehmen, wer sich auf die CD-Aufnahme einlässt – «Schneewittchen» verlangt nun einmal ein besonders hohes Mass an hörender Aufmerksamkeit. Im Theater Basel dagegen ergibt sich eine Spaltung zwischen den oben agierenden Sängern und dem in die Tiefe des Orchestergrabens versenkten Ensemble. Obwohl sich die Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel unter der Leitung Heinz Holligers der Partitur mit letzter Hingabe und mächtigem Erfolg widmen, geht manch eine der leisen, bisweilen aber äusserst amüsanten Randbemerkungen, die Holliger im Instrumentalen äussert, im grossen Ganzen unter. Die Glasharmonika, die an den Glassarg Schneewittchens, aber auch an den Spiegel der bösen Königin erinnert, sie bleibt, wiewohl eindringlich gespielt von Matthias Würsch, etwas fern. Dass der Winzling von Prinz, wenn er gerne ein richtiger Mann wäre wie der Jäger, von dessen Akkordeon begleitet wird – man muss schon sehr die Ohren spitzen, um es nicht zu verpassen. Und Achim Freyers Bühnenphantasie, die der Produktion Farbe, Bewegung und Anregung verleiht, steht einem dabei doch deutlich im Weg.
Wer das angemessen in Rechnung stellt, kann indessen einen hinreissenden Abend mit neuem Musiktheater erleben. Als Lachenmanns «Mädchen mit den Schwefelhölzern» in Hamburg herauskam, befand der Kritiker eines deutschen Nachrichtenmagazins, nachdem er die Generalprobe besucht hatte, hier gebe es nichts als «Qualm vom Quälgeist», wo ihm doch Es-Dur wesentlich lieber sei. Da konnte ein Schweizer Wochenblatt nicht hintanstehen, weshalb dort nach der Zürcher Uraufführung von Holligers «Schneewittchen» von der Spiessigkeit der neuen Musik, von der Frisur des Komponisten und von der Bratwurst am Bellevue die Rede war. Unsäglich, wie das Basler «Schneewittchen» jetzt bestätigt. Heinz Holliger ist hier ein recht eigentlicher Wurf gelungen. Und das Theater Basel unterstützt ihn nun mit ersten Kräften. Anu Komsi meistert die horrende Titelpartie grandios, und das gespiegelte Schneewittchen von Esther Lee steht ihr nicht nach. Herrlich bösartig die Königin von Maria Riccarda Wesseling, etwas braver der tänzelnde Prinz von Mark Milhofer, auftrumpfend der dem Bergschen Tambourmajor verwandte Jäger von Christopher Bulduc und sonor der König von Pavel Kudinov. Wer sein Herz öffnet und den Geist nicht ruhen lässt, wird hier reichlich belohnt. Denn in Basel hat Heinz Holligers «Schneewittchen» so etwas wie eine zweite Uraufführung erfahren; mag sein, dass das Stück jetzt den Weg ins Repertoire findet.