Sigfried Schibli, Basler Zeitung (22.02.2014)
Heinz Holligers Robert-Walser-Oper «Schneewittchen» am Theater Basel
Mit seiner Oper «Schneewittchen», 1998 uraufgeführt am Opernhaus Zürich, hat der in Basel lebende Oboist, Komponist und Dirigent Heinz Holliger seiner alten und hartnäckigen Liebe zum Schweizer Dichter Robert Walser ein tönendes Denkmal gesetzt. Während man beim literarischen Text des Bielers Walser noch rätseln kann, ob diese Fortschreibung des Grimm-Märchens eher ein Lesestück oder ein für die Bühne geeignetes Drama sei, ist Holligers «Schneewittchen» doch – allen Beteuerungen des Komponisten zum Trotz – viel mehr Literaturoper als irgendetwas anderes.
Der Text ist zu hundert Prozent von Robert Walser. Er reflektiert das Verhältnis der eifersüchtigen Mutter zu Schneewittchen, lässt den Prinzen und den Jäger als Geliebten der Königin reden und am Ende auch noch den König. Es gibt klar definierte Rollen, allesamt Gesangspartien mit wenig gesprochenem Text dazwischen, und alte Topoi der Operntradition kehren in modernisierter Form wieder. Nur die Märchenzwerge bleiben stumm.
Das Intervall der Liebe
Gewiss, Holliger verzichtet auf Operntypisches wie eine Ouvertüre und eine klare Akteinteilung, und man käme nicht weit, wenn man wie in einer Mozart-Oper Rezitative und Arien auseinanderhalten wollte. Das ganze, fast zweistündige Werk ist pausenlos durchkomponiert. Aber Holliger war, trotz allem Neutöner-Ehrgeiz, klug genug, bewährte Muster des Wort-Ton-Verhältnisses beizubehalten. Brutales wie der Blutdurst der Königin wird gern mit scharfen Blechbläsermotiven illustriert, das Sticken der Mutter dagegen mit ausgesprochen rhythmischen Takten.
Hartes Schlagwerk setzt ein, wenn der Jäger im Spiel das Schneewittchen töten soll. Zum Satz «Dafür ist die Liebe grenzenlos» singt Schneewittchen ein hoch aufsteigendes Sopran-Intervall, und wenn das Mädchen die Mutter küsst, erklingt sanfte, irgendwie heuchlerische Glasharmonika-Musik. Das Ende mit seinen tonalen Zügen und den Glöckchenklängen darf man als Verklärungsschluss bezeichnen – wunderschön und gar nicht weit entfernt vom «Rosenkavalier» von Richard Strauss.
Zweifellos ist dies eine Partitur von ausgeprägter klanglicher Charakteristik und ausnehmender Raffinesse. Wenn man bisweilen der zeitgenössischen E-Musik nachsagt, es klinge bei ihr alles ungefähr gleich, so gilt dies sicherlich nicht für diese Holliger-Partitur mit ihren pastellenen Klangfarben und den sanft schwebenden Rhythmen. Überdies ist die Instrumentierung so hell und transparent, dass man fast auf die Übertitel verzichten könnte.
Viel feine Souplesse auf einmal, und vielleicht hat der Regisseur und Bühnenbildner Achim Freyer in seiner Basler Inszenierung – der ersten nach der Uraufführung – gerade deshalb auf eine Märchensymbolik der gröberen Art gesetzt. Schon vor dem ersten Takt wird man von Todesfiguren begrüsst, später wackeln Tiermasken über die Bühne, und die stummen, Würste herstellenden Zwerge sind mit fantastisch bunten Penissen bestückt. Auch die Brüste der gierig innere Organe verspeisenden, übergross im Raum schwebenden Königin sind körperliche Ausformungen, die eher einer surrealen Traumlogik als dem Realismus gehorchen.
Die opulent über die Bühne flirrenden Schneeflocken, Discokugel-Effekte und Walser-Handschriften bilden eine selbstständige vierte Ebene zur Musik, dem Text und dem Figurenspiel. Freyer gibt sich poppig, geizt aber nicht mit archetypischen Bildern wie der würgenden Schlange, dem geköpften Pferd und dem Feuerschuh. Da wird kühn aus dem Symbolfundus geschöpft.
Spiel der Masken
Manche Figuren tragen überlebensgrosse Kopfmasken, das Schneewittchen hat ein Double (Esther Lee) und überdies ein Puppen-Äquivalent. Gewöhnungsbedürftig ist Freyers arg strapazierte Idee, Bühnenarbeiter deutlich sichtbar ins Geschehen eingreifen zu lassen. Da wird seine Herkunft aus der Brecht-Schule mit ihrem Anti-Illusions-Prinzip überdeutlich.
Achim Freyer (demnächst 80) nutzt weidlich den Freiraum, den ihm die Partitur von Heinz Holliger (bald 75) lässt. Da bleibt vieles möglich, was die Komposition keineswegs verlangt, aber auch nicht ausschliesst: von der originellen Zeichnung des Jägers, der selber ein Tiger mit Geweih zu sein scheint, bis zum König, der als riesenhafter schwarzer Apparat, einem Ofen ähnlich, auftritt. Ein hyperaktiver Wirbelwind ist der wie ein junger James Last unentwegt tänzelnde, beidhändig rauchende Prinz, dem in der ersten Hälfte eine tragende Funktion zukommt, während im zweiten Teil der Jäger das Sagen hat.
Schneewittchens Klangreiz
Zentral für das ganze Stück, das zweifellos auch seine Längen hat, ist das Verhältnis der beiden Frauen – über weite Strecken hat man es mit einer Dialog-Oper zu tun. Die Königin wird in der Basler Produktion von Maria Riccarda Wesseling verkörpert, deren Stimme bis tief ins Mezzosopran-Register reicht und von glühender Intensität ist. In der Titelpartie der von der Mutter vergifteten, aber ihr verzeihenden Stieftochter ist die finnische Sängerin Anu Komsi zu erleben – eine blütenweisse, äusserst höhenfähige Stimme mit Sopranwonnentönen von unerhörtem Klangreiz. Als tenoral geschmeidigen Prinzen mit Federkopf erlebt man Mark Milhofer, als grimmigen Jäger Christopher Bolduc. Pavel Kudinov ist der Schwarzbass- König. Nicht unbedeutend für die personenreiche Inszenierung ist die Statisterie mit ihren Bewegungschören.
Der Komponist Heinz Holliger liess es sich nicht nehmen, seine Oper mit dem engagiert mitgehenden Sinfonieorchester Basel persönlich einzustudieren und zu dirigieren. Am Ende strahlte er mit Achim Freyer um die Wette, hüpfte leichtfüssig über die Bühne, erfreut und erleichtert über den gelungenen Premierenabend und den freundlichen Applaus, und herzte Schneewittchen, als wäre er einer der verliebten Zwerge.
Im Publikum sassen etliche Grosskritiker der deutschsprachigen Musikpresse sowie Intendanten wie der künftige Salzburger Festspielchef Markus Hinterhäuser. Gut möglich, dass Holligers Oper doch noch den Sprung ins Festspielprogramm schafft. Es wäre ihr zu wünschen.