Eine verstörend betörende Traumwelt

Christian Fluri, Mittelland-Zeitung (22.02.2014)

Schneewittchen, 20.02.2014, Basel

Heinz Holligers «Schneewittchen» in Achim Freyers grandioser Bilderwelt am Theater Basel

Eine unglaubliche künstlerische Energie und eine verzaubernde Poesie bringen die beiden Männer auf die Bühne, die zusammen 155 Jahre zählen: der Komponist und Dirigent Heinz Holliger, der im Mai 75 wird, und der Theatermagier und Künstler Achim Freyer, der im März 80 wird. Sie wurden am Donnerstagabend vom Basler Publikum bejubelt nach der Premiere der Oper «Schneewittchen» nach Robert Walsers gleichnamigem Dramolett. Mit ihnen die Sängerinnen, Sänger und das 30-köpfige Sinfonieorchester Basel, das auf der Bühne den Applaus empfangen durfte. Gemeinsam schaffen sie im Theater Basel ein einmaliges und grandioses Kunstwerk.

Basel ist nach der Oper Zürich (1998) erst das zweite Haus, das die Oper des in Basel lebenden Komponisten Heinz Holliger neu produziert. Auch hier dirigiert der Komponist seine eigene Oper. Achim Freyer kreiert dazu eine surreale Bilderwelt, die der vielschichtigen Musik Holligers und Sprache Walsers entspricht, sie aber nicht verdoppelt. Die Bilder entwickeln sich in einem fruchtbaren Dialog mit dem Stück, das dem «Schneewittchen» und seinem Mythos auf den Grund geht und lange nach dem Ende des Märchens beginnt. Walsers Text und Holligers Musik drehen sich um die Fragen nach dem Leben, der Liebe, dem Kuss, dem Eros, dem Hass, dem Tod, nach Schuld und Unschuld. Sie dringen ein in unser Unbewusstes, leuchten in die sich öffnenden Abgründe.

Die Zahl Sieben

Die in der Oper wie im Märchen zentrale Zahl Sieben nimmt Achim Freyer auf. Holliger hat seine Oper in Prolog, fünf Szenen und Epilog gebaut. Der Zwerge, nach denen sich Walsers und Holligers Schneewittchen noch immer sehnt, sind sieben – was eine heilige Gesamtheit symbolisiert. Achim Freyer hat zur Oper sieben Bilder kreiert, die sieben Minuten dauern, davon sind jeweils zwei Minuten projiziertes Schneegestöber – schön und kalt in einem. Doch: Die von der Musik scheinbar losgelöste Szenerie entwickelt sich eng mit ihr.

Es sind Traumbilder – weitgehend in den Farben Weiss, Blutrot und Schwarz. Die Figuren gleichen Traumwesen, tragen teils grosse Masken, bewegen sich in ritualisierten Gesten. Das Schneewittchen ist mit riesigem Kopf und traurigem Blick gezeichnet – als Symbol der Unschuld, von der neidischen Mutter mehrfach getötet und doch lebendig geblieben in uns. Die Mutter ist in einen blutroten Königsmantel und einen phallischen Spitzhut gekleidet, Sie thront hoch oben und vernichtet Leben. Tut es in unstillbarer Gier. Der Jäger, der der Königin hörige Mord-Knecht, ist eine archaische Figur mit gehörntem Haupt, ist Kraft und Trieb. Der Prinz symbolisiert den kindlichen Teil in uns, der Held sein möchte.

Holliger schrieb dazu eine herrlich ironisierende Heldentenor-Partie. Hier ist er ein herumtänzelnder, kiffender Pierrot, ein die Liebe wegschwatzender Knabe, der Schneewittchen nie geküsst hat. Der König steht da als unbeweglicher Riese, der den Wunsch nach Schneewittchen in sich trägt. Erst im Epilog, nachdem Schneewittchen vom Jäger nochmals fast erdolcht wird, ruft er väterlich zur Versöhnung.

Dazu tauchen Figuren aus der Welt der Märchen und des Comics auf, die sich unserer Seele seit der Kindheit eingeschrieben haben, Metaphern für unsere Triebe, Begehren und Ängste – ein phallischer Hase, unergründliche Zwergfiguren, ein streunender Hund, der Tod. Im sechsten Bild liegt im eisigen Weiss der Prinz als sterbender Walser, der mit dem Schnee verschmilzt.

Die Szenerie entfaltet sich als Spiegelung dessen, was sich in unserem Seelenleben abspielt, was Walser und Holliger in ihren Stücken so präzis formulieren. Freyer verlängert denn auch die Bildwelt in den Zuschauerraum. Vor dem Orchestergraben bewegt sich trauernd, scheu und verstört die Spiegelung des Schneewittchens auf der Bühne. Auf der einen Seite gestikuliert ein weiblicher Tod. Auf der anderen sind drei Königskinder – verloren und traurig verspielt.

Dicht und vielschichtig

Grosse Musik ist Holligers Oper, die hier mit dem Sinfonieorchester Basel eine noch prägnantere, farbenreichere Gestalt erhält als bei der Uraufführung in Zürich. Die Musik ist von unglaublichem Reichtum an Konotaitonen. Zitatfetzen sind als reflektierende Elemente in die eigene Tonsprache eingeflossen. Der Prolog ist von faszinierender Klanglichkeit, aus der sich die fünf Szenen entfalten: von verletzlichen, zarten Melodien über klangliche Eruptionen, ironisierende Teile bis zum transzendenten Klang der Glasharfe und dem hohen, jenseitigen Schlusston. Eine aufwühlende und verzaubernde Musik, grossartig gespielt.

Die Solisten meistern die anspruchsvollen Parts mit grosser Bravour. Anu Komsi ist mit hellem, zartem Sopran ein an der Welt leidendes, immer neu fragendes Schneewittchen. Stark auch Esther Lee als ihre Spiegelung. Mezzosopranistin Maria Riccarda Wesseling gestaltet die schon akrobatische Partie mit Genauigkeit und Vehemenz, sie gibt dem Hinterhältigen, Neidischen und Sinnlichen der Königin packenden Ausdruck. Mark Milhofer singt mit mozartschem Tenor die Partie des knabenhaften Prinzen bravourös. Bariton Christopher Bolduc ist ganz Jäger, vital und kraftstrotzend. Bass Pavel Kudinov gibt einen väterlichen, aber der Welt abgewandten König.