Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (25.02.2014)
Das Luzerner Theater hat am Sonntag eine neue «Carmen» von Bizet auf die Bühne gebracht. Der junge deutsche Regisseur Tobias Kratzer ist mit seinen Ideen aber etwas übers Ziel hinaus geschossen.
Seine «Anna Bolena» in Luzern spielte im Wohnzimmer einer Hausfrau, die sich bis zur Selbstauf gabe mit der todgeweihten Königin identifizierte. Glucks «Telemaco» in Basel erzählte vom Sohn eines Flugpioniers, der im Dschungel seinen verschollenen Vater sucht. In beiden Produktionen gelang es Tobias Kratzer jeweils in erstaunlichem Mass, seine Regie-Einfälle nicht nur glaubwürdig auf die Bühne zu bringen, sondern sogar das Kunststück fertigzubringen, den Szenen und Arien ganz neue und durchaus sehr passende Bedeutungsnuancen abzugewinnen.
Kratzend und beissend
Damit reüssiert er ein paarmal auch in seiner Luzerner «Carmen». Zum Beispiel mit Micaëla, Josés Jugendfreundin, die ihm einen Brief von seiner Mutter überbringt. Bei Kratzer kann sie ihm allerdings nur am Handy vorlesen, was die Distanz zwischen den beiden trotz der glühenden Liebesmelodie greifbar werden lässt. Micaëlas zweiter Auftritt ist szenisch ebenso stark: Normalerweise singt sie allein in den Schmugglerbergen davon, dass sie José zur Rückkehr überreden und die Frau kennenlernen will, die ihn ins Verderben gebracht hat. Hier kann sie es Carmen direkt ins Gesicht sagen. Und im folgenden Kampf Josés mit dem Torero Escamillo kratzend und beissend eingreifen.
Zwar gehen ein paar Sätze des Erkennens aus dem Libretto in diesen Szenen nicht auf, weil längst jeder vom anderen genau weiss, was er ist und wen er liebt. Aber das bleibt Episode und stört noch nicht wirklich. Wo Kratzer wirklich über die Schnur haut respektive wo wir ihm auch beim besten Willen nicht mehr folgen können, ist das Ende: Carmen bringt sich selber um. Bei aller Todesahnung aus den Karten und den düsteren Warnungen, dass José sie umbringen will, gelingt es Kratzer nicht, uns plausibel zu machen, warum sich diese freiheitsliebende, lebenslustige Frau innerhalb weniger Stunden zur Selbstmordkandidatin verändern soll.
Zunehmend paranoide Züge
Denn Kratzers «Carmen» dauert nicht länger. Sie findet ausschliesslich in der Wohnung Escamillos statt: Gigantischer Stierkopf und Torero-Kostüm an der Wand, zwei Pole-Dancing-Stangen für Carmen, die längst hier eingezogen ist. Der eifersüchtige José schleicht sich wie jene notorischen Geiselnehmer aus US-Horrorfilmen in ihr Appartment, will sie zurück gewinnen, fesselt sie, terrorisiert sie mit zunehmend paranoiden Zügen. Zigarrenarbeiterinnen, Soldaten, Wach ablösung: Brauchen wir alles nicht. Der Chor sitzt im Publikum, die Nebenfiguren lösen sich wie Platzhalter aus seiner Mitte. Im Kinderchor erhalten die Nachwuchs-Toreros Audienz bei ihrem Idol, sein «Toréador»-Lied schmettert Escamillo einer Journalistin in den Notizblock. José versteckt sich derweil hinter der Couch.
So geht es weiter: Tanzen kann Carmen auch zu Hause, die Arena findet im Fernsehen statt, Orangen verkauft niemand. Und wenn es wirklich nicht anders geht, dann wechselt bei Kratzer das Licht, und wir finden uns wieder in den Erinnerungen unseres unglücklichen Liebespaars: Die Szenen bei den Schmugglern, die hier wirklich ganz üble Gangster sind, und natürlich die tragischen Momente, in denen José Carmens Liebe verloren hat. Allerdings: Ganz verloren hat er sie nicht: Wenn sie sich am schlafenden Ex-Geliebten rächen könnte, tut sie es nicht, sondern ruft mit seinem Handy Micaëla zu Hilfe, statt ihn zu fesseln oder zu erschiessen. Das war dann wieder erstklassige Kratzer-Arbeit. Er wählte übrigens Georges Bizets Erstfassung ohne Rezitative. Die Dialoge liess Kratzer auch gleich weg respektive ersetzte sie durch wenige Worte, die sein Regie-Konzept unterstützten.
Musikalisch stellenweise behäbig
Musikalisch blieben Wünsche offen: Das Luzerner Orchester wurde angefeuert und dynamisch klug geleitet von Howard Arman, offenbarte Drive und Klangfarbenkolorit, aber agierte bisweilen doch recht behäbig. Carolyn Dobbin war eine hinreissende Carmen, der nur in den emotional extremsten Momenten ein wenig die stimmlichen Reserven fehlten. Den José sang Carlo Jung-Heyk mit viel Einsatz, Grimassen und gewollt schrillen Tönen eindrucksvoll. Den Maniac nahm man ihm jedenfalls sofort ab. William Berger als Escamillo war tadellos, die Micaëla von Jutta Marie Böhnert zwar stimmlich beeindruckend, aber in ihrem Klangfarbenspektrum bisweilen etwas unterkühlt, wo Geschmeidigkeit passender gewesen wäre.