Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (25.02.2014)
Georges Bizets Publikumsrenner «Carmen» setzt in Luzern den Opernfreunden einige Knacknüsse vor
Wenn sie nur nicht so fantasielos wären, diese jungen Regisseure. Mut haben sie durchaus, stellen sie sich doch szenischen Herausforderungen, vor denen sich Regie-Legenden wie Patrice Chéreau oder Harry Kupfer noch mit sechzig gefürchtet hätten. Oder haben Sie schon mal eine «Carmen» gesehen, die durchgehend in einem Wohnzimmer spielte?
Gegen die Luzerner Inszenierung des 33-jährigen Regisseurs Tobias Kratzer war Peter Mussbachs Zürcher Versuch, «Carmen» auf einer Müllhalde zu zeigen, geradezu ein Kinderspiel: Carmen konnte selbst in der Antiidylle den seriösen, Micaëla liebenden Soldaten José zu ihrem Befreier und Liebhaber machen, alsbald liebend zum Stierkämpfer Escamillo überlaufen und sich im Finale von José töten lassen.
Kratzer macht die einst sehr rasch zur Grande Opera avancierte «Carmen» von Georges Bizet in Luzern wieder zur ursprünglichen Opera Comique, zur Spiel- oder Kammeroper. Das Wort Kammerspiel nimmt Kratzer gar wörtlich und lässt «Carmen» tatsächlich während 160 Minuten in einem einzigen Zimmer spielen.
Sie singen, aber handeln nicht
Im Prinzip beginnt Kratzer im Finale des 4. Aktes: José schleicht zur Ouvertüre mit gezückter Waffe in die Wohnung von Carmen – oder ists die von Escamillo? –, wartet hinter dem Sofa, bis Escamillo weg muss: Nun beginnt das Eifersuchtsdrama. Da die ersten Szenen der «echten» Oper (sie spielen auf dem Platz vor einer Tabakfabrik) keine Wohnzimmer-Geschichte hergeben, lagert der Regisseur den Chor und die Nebenrollen auf zwei Vorbühnen aus: Sie singen, aber handeln nicht.
Dass der berüchtigte Stierkampf im letzten Akt über den Flachbildschirm flimmern wird, ahnt der Opernfreund. Nicht, weil er mit besonders viel Fantasie gesegnet wäre, sondern weil er den «Trick» im Oktober 2002 schon mal in Luzern gesehen hat. Auch damals war Regisseur Christian Sedelmayer darum bemüht, jegliche Soldaten- und Zigeunerromantik zu unterdrücken. Der dem deutschen Opern-Mainstream huldigende Kratzer verfährt ähnlich: Das Torero-Gewand ist bei ihm lediglich ein Folklore-Element. Dass sich Carmen zweimal ein Flamenco-Kleid anziehen und eine schwarze Perücke aufsetzen muss, sich also als «Gute-alte-Oper-Carmen» verkleidet, wirkt bemühend.
Immerhin: Im TV ist Stierkämpfer Escamillo (William Berger) auch mal bei einer Pressekonferenz zu sehen, und Carmen (Carolyn Dobbin) himmelt ihn via Mattscheibe an. Später wird Escamillo einer Journalistin, die ihn interviewt, das «Torero»-Lied vorsingend die Beine tätscheln.
Duettsingen via Mobiltelefon
Die Szenen und Bilder (Bühne Rainer Sellmaier) zeigen: Regisseur Tobias Kratzer untermalt Worte und Musik pausenlos mit Aktion. Das Duett zwischen José (Carlo Jung-Heyk Cho) und Micaëla (Jutta Maria Böhnert) findet via Mobil-Telefon statt. Gelingt es Kratzer zwischendurch doch nicht, die Szenerie so umzubiegen, dass sie in seine Kammerfantasie passt, verdüstert sich das Licht und er greift zur Rückblende – zurück auf die normale Handlung! Das geht rasch: Ein Schritt vor, ein Tisch gedreht, eine Szene gespielt, zwei Schritte zurück.
Von den Sängern verlangt das eine ungeheure Flexibilität, schauspielerisch geben sie ihr Bestes, auf musikalische Details achten sie leider weniger. Mit lokalpatriotischer Ensemble-Liebe kann man dem einiges abgewinnen. Aber ist es nicht traurig, dass sich kein einziger der Protagonisten mit der gezeigten Stimmleistung einem grösseren Haus empfehlen könnte? Erfreulich, immerhin, spielt das Luzerner Sinfonieorchester unter Howard Arman: flüssig, ohne falschen Zauber – durchaus mit Sinn für Farben und Sinnlichkeit.
Zum Schluss wird Carmen nicht von Jose niedergestochen, sondern sie erschiesst sich im Bad. Gerade diese Szene zeigt, wie banal Bizets geniale «Carmen» wird, wenn man ihr fantasielos gegenübertritt.