Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (08.04.2014)
Tschaikowskys Oper «Pique Dame» ist ein düsteres Werk. Noch düsterer ist die Inszenierung, die Robert Carsen nun am Zürcher Opernhaus zeigt.
Wie ein Tinnitus sirren die Streicher, und das Bett dreht sich, es ist leer, aber plötzlich liegt die Gräfin drin, dann ist sie wieder weg, und Hermann weiss nicht, wie ihm geschieht. Er ist in diesem Moment schon ziemlich weit fortgeschritten in seinem Wahnsinn, dem er die Liebe opfern wird und auch das Leben. Und das Publikum halluziniert mit ihm und dem Regisseur Robert Carsen, der sich bei diesem Bühnentrick von seiner besten Seite zeigt: mit seiner Fähigkeit, den Kern eines Werks in einem einzigen Bild zu erfassen, dessen vollendete Eleganz man nicht mehr vergessen wird.
Die Zürcher kennen Carsen von seiner hinreissend witzigen «Semele» und einer ebenso klugen wie sinnlichen «Tosca» - von Aufführungen, die aus anderen Opernhäusern übernommen worden waren. Nun hat der kanadische Star hier erstmals eine Original-Inszenierung präsentiert (die später nach Strassburg weitergereicht wird) und sich dafür jenes Werk ausgesucht, mit dem er einst als Regie-Hospitant seine ersten Opernerfahrungen gemacht hat: Tschaikowskys «Pique Dame», dieses grandiose Puschkin-Stück über Hermann, Lisa und die alte Gräfin, über die Liebe und den Tod und das Glücksspiel, über fixe Ideen und das, was sie mit einem Menschen anstellen können.
Bühne im Dämmerlicht
Vor allem Letzteres hat Carsen interessiert, er fokussiert seine Inszenierung ganz auf Hermann, den Aussenseiter in einer noblen russischen Gesellschaft, in der die Damen noch Französisch reden und die Herren wissen, was Ehre ist. Und er lässt alles weg, was die Konzentration auf diese Figur stören würde: den Kinderchor und die Szene im Mozart-Stil vor allem (also die heitersten Momente des Werks). Und dann auch die Sonne, den Spaziergang, das Gewitter. Das alles findet zwischen dunkelgrün gepolsterten Wänden statt, unter dunkelgrün umfältelten Lampenschirmen, an dunkelgrün bespannten Spieltischen. Oder auch in Hermanns Kopf, in dem es irgendwann nur noch die drei Karten gibt, die er auf einen dieser Spieltische legen will.
Eine düstere Angelegenheit ist diese Aufführung also, im wahrsten Sinne des Wortes. Die von Michael Levine entworfene Bühne liegt im Dämmerlicht, auch Brigitte Reiffenstuels Kostüme bringen abgesehen vom Dunkelgrün keine Farbe ins Spiel. Während Tschaikowskys Musik immer wieder aus dem Opernstil kippt - hin zur Gruselerzählung, zum klavierbegleiteten Lied, zum Choral, zur Blasmusik - wird bei Carsen alles in eine einzige Stimmung gezwängt.
Das wirkt beklemmend, auf die Länge etwas monoton. Aber auch das gehört zu Hermanns Perspektive: Er kennt keine Ablenkung von seinen Wahnideen, er hört keine andere Musik als jene, die ihn gerade antreibt; wie ein Gespenst wandelt er in Spot-Beleuchtung durch die klaustrophobische Szenerie, langsam, lautlos, gefangen zwischen den gepolsterten Wänden, gegen die er nie anrennen wird.
Es ist sein Abend und damit, ganz unverhofft, der Abend von Aleksandrs Antonenko. Misha Didyk, der den Hermann hätte geben sollen, musste eine Woche vor der Premiere krankheitsbedingt aussteigen - und der Ersatz fand sich in der Zürcher «Aida», wo Antonenko derzeit den Radames singt. Eine reizvolle Konstellation: Wo er bei Verdi unter seinem sozialen Niveau eine (vermeintliche) Sklavin liebt, orientiert er sich diesmal ein paar Gesellschaftsschichten nach oben. Statt eines Kriegstraumas plagt ihn der Geist der Gräfin, die vor Schreck über seine Pistole gestorben ist. Und hier wie dort wird seine Darstellung gegen das schlimme Ende hin immer packender.
Das gilt schauspielerisch, und es gilt vor allem musikalisch. Je eindimensionaler Hermann in seinem Wahnsinn wird, desto facettenreicher wird Antonenkos Gesang: Lyrisch und laut, fahl und farbig ist sein Tenor, und wie er sich verliert im Orchester oder in Lisas Stimme, wie er erschrickt über den Choralgesang, der vielleicht nur der Wind ist: Das zieht einen mit hinein in die Psyche einer Figur, für die man sich in den ersten Bildern noch nicht wirklich interessieren mochte.
Das wiederum hatte nicht zuletzt mit der Philharmonia Zürich zu tun. Unter der Leitung von Jiri Belohlavek spielte sie zunächst vor allem wuchtig und verleitete die Sänger damit zum Forcieren. Das fünffache «Ich fürchte mich», eigentlich ein aus Zeit und Raum gefallener musikalischer Schlüsselmoment, war nicht mehr als zum Fürchten laut.
Grosse Emotionen, ganz leise
Aber Tschaikowskys Partitur kennt wirkungsvolle Mittelchen gegen plakatives Musizieren, und die wechselnden Tonfälle zeigten ihre Wirkung. Beim Orchester, das die grosse Emotion irgendwann auch ganz leise zu entfachen vermochte, das von bodenständiger Folklore zum körperlosen Rauschen wechselte und die Figuren mit wachsender Dringlichkeit hineintrieb in die Geschichte. Oder beim von Jürg Hämmerli vorbereiteten Chor, der sein schlagkräftiges Forte schillern liess. Oder bei den Männern, die so anders sind und singen als Hermann: gutmütig (Alexey Markov als Tomski), alkoholselig (Martin Zysset als Tschekalinski) oder formvollendet anständig (Brian Mulligan als Lisas verlassener Verlobter Jeletzi, der nicht einmal im Moment der Rache seine baritonale Contenance verliert).
Und schliesslich und vor allem: bei den Frauen, die Hermann mit ins Elend zieht. Doris Soffel gibt die alte Gräfin ebenso streng wie verletzlich, mit metallisch gewordener Stimme und der harten Würde einer Frau, die ihr Geheimnis erst im Tod und selbst dort gegen ihren Willen preisgibt. Lisa dagegen will nichts wissen von Geheimnissen, und die Sopranistin Tatiana Monogarova zeigt das berührend: im sehnsuchtsvollen Duett mit Polina (Anna Goryachova); im dunklen Glühen ihrer Liebe, dem nur ein Wahnsinniger widerstehen kann; und beim endlosen Trauermarsch, bei dem ihr Leben so sehr zu Ende ist, dass sie in dieser Aufführung nicht einmal explizit zu sterben braucht.
Man erschrickt fast ein wenig, als sie mit allen übrigen danach auf hell erleuchteter Bühne den Jubel entgegennimmt.