Oliver Schneider, DrehPunktKultur (10.04.2014)
Beide waren sie noch kürzlich in Wien verpflichtet und beide mit grossem Erfolg. Die Rede ist von Jiří Bělohlávek, der Ende Jänner die neue „Rusalka“ in der Staatsoper dirigierte, und Robert Carsen, der zwei Wochen später Jean-Philippe Rameaus Tanzsatire „Platée“ in die Pariser Modewelt verpflanzte. Nun also Zürich-Station: Tschaikowskys Spieler-Oper als Psycho-Thriller.
Tschaikowskys Oper bietet kaum heitere Momente, zumal sich Regisseur und Dirigent dazu entschieden hatten, das Kinderchor-Bild und das Schäferspiel im zweiten Akt zu streichen. Dies erlaubt eine noch stärkere Konzentration auf den neurotischen Hermann, aus dessen Sicht Robert Carsen die Handlung nach Puschkins gleichnamiger Novelle erzählt.
Während der Introduktion wird das Schlussbild im Spielcasino vorweggenommen: Hermann hat sich erschossen, nachdem er im Spiel alles verloren hat. Und im Reich der Toten treffen sich die drei Toten des Abends wieder: Hermann, die ihn liebende Lisa, die er aus Spielsucht verstossen hat, und die alte Gräfin, deren Tod Hermann verursacht hat, indem er das Geheimnis der drei immer gewinnenden Spielkarten entlocken wollte.
Grün steht in der Ausstattung für die Farbe der Spieltische, kann aber auch allgemeiner als Symbolfarbe Geld und Reichtum meinen. Die eigentlich in der Zeit Katharina der Großen spielende Handlung verlegt Carsen in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, was sich vor allem an den eleganten Abendroben zeigt. Nur Hermann fällt aus der Reihe und ist in seiner ungepflegten Art und nachlässig gekleidet von Anfang an als Aussenseiter gezeichnet. Er ist nicht der Teil der Gesellschaft, die sich am Spieltisch vergnügen kann, sondern kann als Mittelloser nur zuschauen, wie die anderen gewinnen. Deshalb verfolgt er nur ein Ziel: aufzusteigen, wozu er Geld benötigt. Als die Ankunft der Zarin am Fest im Hause des Fürsten Jeletzki angekündigt wird, senkt sich von oben ein plüschiges Bett, wie es die adeligen Herrscher für vormittägliche Audienzen nutzten. Doch nicht die Zarin erscheint, sondern auf Hermann geht ein Geldregen nieder. Der Traum, der sein gesamtes Denken beherrscht.
Aleksandrs Antonenko gibt diesen von seinem Geltungsdrang Getriebenen vom ersten Moment an mit größter Leidenschaft. Und es ist nicht allein seine körperliche Größe, die ihn so präsent wirken lässt, wenn er die Bühne nur betritt. Die Liebe zu Lisa kann ihn von seiner inneren Getriebenheit nicht heilen, sie ist zu schwach. Auch stimmlich überzeugt Antonenko mit strahlend, mühelos angesetzten Höhen und geschmeidiger, voluminöser Stimme.
Lisa und ihre Großmutter, die alte Gräfin, wissen bereits beim ersten Zusammentreffen mit Hermann, dass ihr Schicksal dunkel miteinander verbunden ist. In die Rolle der Gräfin, die in ihrer Vergangenheit lebt und durch das Zusammentreffen mit Hermann von dieser eingeholt wird, schlüpft in Zürich Doris Soffel. Im langen Abendkleid hat sie ihren großen Auftritt in der Nachtszene in ihrem Zimmer hat, wenn sie, ins Französische wechselnd, mehrheitlich im Parlando über ihre Zeit bei den Ducs, Duchessen und Comtessen schwelgt, bevor sie, von Hermann mit dem Revolver zu Tode erschreckt, nach einem Infarkt verstirbt. Das Geheimnis der drei magischen Spielkarten zum Siegen nimmt sie mit sich ins Grab.
Erst ihr Geist verrät Hermann die Drei, die Sieben und das As. Hermann hat sein Ziel erreicht und Lisa muss erkennen, dass für ihre Liebe zu ihm in seinem Leben kein Platz ist. Tatiana Monogarova bringt das ideale schwermütige, fast schon mezzoartige Timbre für die Partie mit und überzeugt mit einer gut fokussierten, volumenreichen Stimme. Die kleineren Partien werden in Carsens spannungsgeladener Regie noch stärker zu „Stichwortgebern“. Brian Mulligan singt den von Lisa nicht erhöhten Fürst Jeletzki mit rundem Bariton und nobler Zurückhaltung, Alexey Markov den Grafen Tomski kernig-viril. Anna Goryachova gefällt in der kurzen Partie von Lisas Freundin Polina. Etwas inhomogen sind die von Jürg Hämmerli einstudierten Chöre, vor allem im ersten Teil.
Die Philharmonia Zürich unter Jiří Bělohlávek steht, hat maßgeblichen Anteil am Rundumerfolg des Abends. Mit so intensiver Musizierlust und vitaler Artikulation hört man die Musiker nicht alle Tage. Nach minimen Anfangsschwierigkeiten mit der Lautstärke aufgrund der beschränkten Dimensionen des Hauses kann sich Bělohlávek ganz auf das Hervorarbeiten der Leit- und Erinnerungsmotive und der reichen Orchestrierung konzentrieren. In Emotionalität schwelgend bereitet er den Sängern den passenden Plafond, auf dem sie die tragischen Gestalten zum Leben erwecken können.