Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (19.05.2014)
Monteverdis «Ulisse» in Zürich
Eine Aufführung von Monteverdis «Ulisse» stellt in jeder Hinsicht ausserordentliche Anforderungen. Das Opernhaus Zürich hat sie mutig angenommen und ehrenvoll bewältigt.
Das Schönste am Theater ist das Dunkel. Ist jener magische Moment, da die Lichter im Saal schwächer werden, bis schliesslich vollkommenes Schwarz herrscht. Da ist alles offen, sind die Erwartungen aufs Höchste gespannt und machen sich noch keine Enttäuschungen durch szenische oder musikalische Wirklichkeiten bemerkbar. Aus diesem Dunkel entsteht, in der jüngsten Produktion des Opernhauses Zürich, «Il ritorno d'Ulisse in patria» von Claudio Monteverdi. So ganz aus dem Nichts ist die Oper nach 1600 nicht gekommen, doch dass sich mit Stücken wie diesem «Ulisse» etwas angebahnt hat, das bis heute von mächtiger Wirkung ist, das fasst der Beginn dieses Abends in ein schlüssiges Bild.
Spartanisch und vital
Eine Aufführung von Monteverdis dritter überlieferter Oper gleicht dem Gang durch eine Ruine. Denn was heisst schon «überliefert»? Ein Autograf gibt es nicht, bekannt sind lediglich Abschriften – und diese Notentexte bieten keine Partitur im eigentlichen Sinn, sondern bestenfalls ein Gerüst. Sie enthalten Singstimme und Bass, keine fürs Continuo bestimmte Bezifferung, welche die Harmonie anzeigte, und kaum Angaben zur Instrumentation. Das muss alles neu erfunden werden, weshalb eine klangliche Verwirklichung von «Ulisse» stets eine Hypothese bleiben muss. In Zürich hat diese Hypothese Ivor Bolton formuliert, der die Produktion hätte dirigieren sollen, jedoch kurzfristig ausgestiegen ist.
Bolton hört das Stück vergleichsweise streng, ganz nah an der nach 1600 neu aufgekommenen Monodie, der nur von einem harmonisierten Bass begleiteten Melodie. Der instrumentale Prunk ist radikal reduziert; zum Beispiel verzichtet diese neue Zürcher Fassung auf die Posaunen, die Nikolaus Harnoncourt, als er das Stück 1977 in Zürich ausgrub, für die Auftritte der Götter als obligatorisch erachtete. Geradezu spartanisch, nämlich solistisch ist das Orchester La Scintilla Zürich besetzt: mit sechs Streichern, zwei Zinken, die wie Trompeten klingen, zwei Blockflöten – dann aber einem ausgesprochen reich bestückten Generalbass. Was Robert Howarth, der als Assistent Boltons die Einstudierung begleitet hat, als Dirigent am Cembalo an Vitalität ausstrahlt und erzielt, ist nun allerdings absolut erstaunlich. Wer die Ohren spitzt – und das ist an diesem Abend fürwahr gefordert –, kann seine Wunder erleben.
Allerdings eher auf instrumentaler als auf vokaler Ebene. Ein Kernproblem der historisch informierten Aufführungspraxis bestand seit je darin, dass die Sänger in der Anwendung der Erkenntnisse den Instrumentalisten nachstanden. Wer von heute aus in die 1979 entstandene Aufnahme von Monteverdis «Ulisse» mit Harnoncourt hineinhört, kann über den Aufbruch in der Musizierhaltung staunen und sich zugleich wundern über den geradezu an Wagner orientierten Ton der Sänger. So ist es, angewandt, auch beim Zürcher «Ulisse» von 2014. Es gibt inzwischen zwar eine ganze Anzahl von Sängern, die ihre Kunst historisch informiert ausführen, sie haben aber nicht den Weg in diese Produktion gefunden. Ihnen diesen Weg zu öffnen, wäre auch schwierig gewesen, denn Monteverdis «Ulisse» ist ein personenreiches, aber an solistischen Glanznummern armes Stück; es ist alles andere als leicht zu besetzen.
So bleiben im Musikalischen denn diverse Fragezeichen. Kurt Streit, der den Ulisse gibt, ein Tenor aus dem Kreis um Harnoncourt, wirkt auch in dieser Produktion hochgradig identifiziert – und zugleich darstellerisch hölzern wie stimmlich eng: eigenartig. Als Penelope besticht Sara Mingardo mit einem wohlklingenden Alt, sie geht aber selten über die Rundung ihres Timbres hinaus. Grossartig Werner Güra als Eumete, als altvertrauter Hirt des Ulisse; die Persönlichkeit des Interpreten lässt stilistische Zweifel in den Hintergrund rücken. Und an Rudolf Schasching als dem Schmarotzer Iro kann man sich herzlich freuen, auch wenn die Spässe des Sängers eigentlich immer dieselben sind. Während man bedauert, dass der junge französische Countertenor Christophe Dumaux, der im Prolog die allegorische Figur der menschlichen Existenz und später den Freier Anfinomo verkörpert, nicht mehr zu singen hat.
Die Wirkung des Beiläufigen
Aber eines muss man dem Abend lassen: Die Stimmung auf der Bühne ist aufgeräumt – und das ist nicht zuletzt das Verdienst des Regisseurs Willy Decker. Er lässt «Ulisse» nicht in ferner Vergangenheit oder im Nirgendwo stattfinden, sondern heute. Die Götter, die das Geschehen lenken, wissen zwar noch zu donnern, sie geben sich aber in Abendtoilette an einer langen Tafel im Hintergrund der Bühne dem Champagner hin. Im Vordergrund dominiert jene weisse, kreisrunde, leicht ansteigende Scheibe, die auf den Opernbühnen ausgesprochen beliebt ist. Sie steht hier vielleicht für das Vergehen der Zeit im Warten Penelopes auf den ausbleibenden Gatten.
Und sie bildet die Spielfläche für die munteren Leute von heute, die allerdings da und dort eine Spur zu rasch in den Klamauk fallen – als ob, wieder einmal, das Szenische die Ansprüche des Musikalischen auffangen müsste. Ihre stärksten Momente hat die Inszenierung nämlich gerade andernorts: dort, wo sie ganz beiläufig bleibt. Nachdem die Freier allesamt pompös am Bogen des Ulisse gescheitert sind, nimmt der als alter Bettler verkleidete Hausherr das Gerät mit links in die Hand und spannt es, ohne dass es jemand bemerkte. Flüstern kann bisweilen wesentlich lauter klingen als schreien.