Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (19.05.2014)
Sie beginnt verhalten und endet ergreifend: Claudio Monteverdis Oper «Il ritorno d’Ulisse in patria» am Zürcher Opernhaus. Das Premierenpublikum war rundum zufrieden.
Ach, diese Götter! Da sitzen sie unter ihrem Kronleuchter, nippen Champagner, streiten sich ein wenig, und wenn sie sich allzu sehr langweilen, setzen sie mit einem Fingerschnipsen die Welt in Bewegung, sodass die Menschen kreuz und quer durcheinanderstürzen. Das findet man lustig auf dem Olymp, Mitleid hat keiner. Oder nur selten, dann steigt Minerva hinunter und hilft dem einen oder anderen wieder auf die Beine. Bis zum nächsten Mal.
So jedenfalls zeigt es der Regisseur Willy Decker in seiner Inszenierung von Monteverdis «Il ritorno d’Ulisse in patria», in der er die Schichten des Werks mit einem ebenso kompromisslosen wie stilvollen Farb- und Formkonzept auf die Bühne überträgt. Die Welt, das ist bei ihm eine schräg gelegte Drehbühne, die sich als realer Spielort ebenso eignet wie als metaphorischer. Mausbeinallein sitzt da Penelope und wartet auf ihren Ulisse. Dann wieder wuselt das ganze grosse Personal durcheinander, manche verbünden sich, andere bekämpfen sich. Zwischendrin wird auch mal einer von der Scheibe geschubst, ein anderer von ihr ferngehalten - wie das so ist im Leben, wie es sein muss in dieser Oper.
Der Reiz der Strenge
Auch im hochgefahrenen Orchestergraben macht man alles richtig. Dort hätte Ivor Bolton das Orchestra La Scintilla dirigieren sollen, aber er wurde krank; an seiner Stelle sitzt nun Robert Howarth am Cembalo, der die Produktion von Anfang an als Assistent begleitet hat. Ein weiser Entscheid, denn gerade bei diesem Stück hätte ein rasch eingeflogener Ersatz nichts Vernünftiges ausrichten können - weil es jedes Mal wieder neu erfunden werden muss. Monteverdis 1640 in Venedig entstandene Partitur ist wie damals üblich nur in ihren Grundzügen festgelegt: Gesangsstimmen, teilweise bezifferte Basslinie, fertig. Keine Instrumentation (wobei man weiss, dass in der Frühzeit der kommerziellen Oper die Orchester billig, also klein sein mussten). Und auch keine Mittelstimmen, die wurden improvisiert damals.
Für Bolton hat nun John Toll eine Partitur eingerichtet, die sich eng an die Vorgaben hält. Wie vertraut Howarth mit dieser Sicht ist, zeigt sich vom ersten Ton an: Aus dem Nichts und dem zunächst stockdunklen Raum tastet sich eine Theorbe in die Musik hinein und öffnet die Ohren für jene essenziellen, oft leisen Klänge, um die es hier geht. Ein abwechslungsreiches Continuo (mit dem schnarrenden Regal als Spezialeffekt) begleitet den Sprechgesang, aus dem die Oper über weite Strecken besteht. Nur gelegentlich kommen die Streicher zum Zug, noch seltener bringen Zinken und Blockflöten warme und helle Farben ins Spiel.
Kein Zweifel, man hat dieses Stück schon üppiger, auch verspielter gehört. Aber die Strenge hat ihren Reiz: weil die musikalischen Ebenen - der gezierte Tonfall der Götter, der gedämpfte Gestus der Penelope, der tänzerische Schwung der Diener, die parodistischen Ausrutscher des Iro - genauso klar konturiert sind wie das Bühnengeschehen. Und weil die Aufführung im Laufe des Abends gerade dank dieser Konsequenz immer freier, frecher, sinnlicher wird.
Zum Glück. Denn am Anfang wartet nicht nur Penelope auf Ulisse, auch im Publikum wartet man: darauf, dass die prächtigen Bilder lebendig werden, dass die Musik zu blühen beginnt und die Stimmen die Distanzen überwinden, die ihnen die Bühne aufzwingt. So effektvoll der Raum ist, den Wolfgang Gussmann geschaffen hat: Er ist so offen und weit, dass zumindest die tiefen Stimmen in ihm versickern - erst recht in den turbulenten Szenen, in denen die Schritte oft lauter sind als die Töne. Penelope, die im herben Alt von Sara Mingardo eigentlich eine treffende Stimme gefunden hätte, wirkt da oft noch blasser, als es ihr die lebenslustiger aufgelegten Diener (Julie Fuchs und Mauro Peter) vorwerfen. Leichter haben es die göttlichen Sopranistinnen Anna Stéphany und Ivana Rusko. Oder die Tenöre: Kurt Streit als Ulisse, Werner Güra als Schweinehirt Eumete respektive hier auch Ulisses Alter Ego - das sind Luxusbesetzungen, die ihren Figuren nicht nur vokalen Glanz, sondern vor allem Charakter verleihen. Der jugendlich-geradlinige Telemaco von Fabio Trümpy passt da bestens dazu.
Lustiges Gemetzel
Ihnen gegenüber stehen Penelopes Freier, und sobald sie ihre Hemden ausgezogen haben und in «I love P»-Leibchen dastehen, wird klar, dass Willy Decker nicht nur Sinn für Eleganz, sondern auch für Humor hat. Und dazu die richtigen Darsteller: Wie Christophe Dumaux, Michael Laurenz und Erik Anstine die Trauernde bedrängen, wie sie scheitern beim Versuch, Ulisses Bogen zu spannen, das ist grandioser Slapstick. Selbst das Gemetzel ist lustig, so richtig tot sind sie nicht danach. Auch der dicke Iro, eine Glanzrolle für Rudolf Schasching, übersteht seinen Selbstmord, und man mag es ihm gönnen.
Nur: Wie kommt man nach diesem Klamauk wieder zurück zu den grossen Dingen? Zur Liebe, zur Standhaftigkeit, zur menschlichen Zerbrechlichkeit, die Dumaux im Prolog so eindringlich besungen hatte? Spätestens hier nun zahlt sich das Konzept aus. Denn die Drehbühne dreht sich weiter, und irgendwann werden wieder alle so dastehen wie zu Beginn und darauf warten, dass die Götter ein nächstes Mal zuschlagen.
Aber eine Drehung davor sind plötzlich nur noch Penelope und Ulisse da, und wie sie ihn erst nicht erkennt, nicht erkennen will; wie Sara Mingardo ihren Alt aufstrahlen lässt, nun, da ihr Monteverdi erstmals eine richtige Melodie zugesteht, wie dann die beiden Stimmen ineinanderfliessen - das greift direkt ans Herz. Die Geduld hat sich gelohnt, für sie und für uns.