Elisabeth Feller, Mittelland-Zeitung (19.05.2014)
Willy Deckers Inszenierung von Monteverdis «Il ritorno d’Ulisse in Patria» setzt am Opernhaus Zürich neue Massstäbe
Vergleichen soll man nicht. Schliesslich sind seit dem legendären Monteverdi-Zyklus von Jean-Pierre Ponnelle und Nikolaus Harnoncourt fast 40 Jahre verstrichen. Doch er ist unvergessen, weil die damalige Begegnung mit Monteverdi einem Schock gleichkam: was für eine universale Musik. Welche Möglichkeiten diese regielich auszuloten. Solches ist nicht wiederholbar, ist die Besucherin vor Willy Deckers Neuinszenierung am Opernhaus Zürich überzeugt – und sagt am Ende ebenso überzeugt: doch.
Der Blick vom Rang hinunter fällt zunächst auf den kleinen Orchestergraben mit 17 Musikern; links und rechts führen Stufen auf die Bühne. Bereits die Einstimmung verdeutlicht, was diese Inszenierung in sämtlichen Belangen auszeichnet: Sorgsamkeit. Die ersten Töne erklingen aus einem vollständig dunklen Orchestergraben, was das Publikum im ebenfalls finsteren Zuschauerraum fast aufschrecken lässt; dann wird der Vorhang sachte in die Höhe gehoben – die Spannung ist mit Händen zu greifen. Was werden wir erleben und hören? Keinen süffigen, dafür einen sonoren Orchesterklang, der mit der Zeit als immer farbiger wahrgenommen wird.
Es braucht nur minime Anstösse
Robert Howarth (für den erkrankten Dirigenten Ivor Bolton eingesprungen) leitet das Orchestra La Scintilla vom Cembalo aus. Wie entspannt ist heute doch die historisierende Aufführungspraxis. Alles ist organisch eingebettet in den Fluss von Monteverdis unerhört beredter Musik. Da braucht es nur minime Anstösse, um diese zu akzentuieren. Eine aufdringliche Schärfung vermeidet der Dirigent Howarth genauso wie der Regisseur Willy Decker, der «Ulisse» auf einer weissen Drehbühne mit schwarz gekleideten Protagonisten (Wolfgang Gussmann, Susana Mendoza) spielen lässt. Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung ist der Satz von «L’humana fragilità» im Prolog, von dem Decker alles ableitet: «Sterblich bin ich, menschlich beschaffen.»
Die anfängliche Koketterie kommt dem Altus Christophe Dumaux abhanden, als er, von den Mitspielern gepackt, zu Boden geworfen und mit Asche bestreut wird. Welch ein Symbol für Vergänglichkeit. Die Götter sitzen derweil im Hintergrund an einem Tisch, trinken Sekt, sehen zu oder greifen ein und lassen es ab und an krachen und donnern. «Die ganze Welt ist Bühne», schrieb Shakespeare. Für Decker ist die ganze Bühne Welt. Auf Wolfgang Gussmanns Drehscheibe sind fast immer alle Protagonisten jeden Alters und aus jeder Schicht präsent. Umso frappanter wirken jene Szenen, wo Decker anders verfährt und die ausnahmslos herausragenden Sänger-Darsteller dem leeren Raum aussetzt. Nichts wirkt verstörender und anrührender als die Trauer Penelopes um ihren vermissten Mann Ulisse – allein auf der Bühne. Ein insistierender Klang aus dem Orchestergraben, der nicht enden will, kündigt diese lamentierende Deklamation an.
So wie die Altistin Sara Mingardo diese gestaltet, ist sie massstäblich. Jedes Wort wird mit Bedeutung aufgeladen und entwickelt so einen Sog, der alle Beteiligten ergreift. Stellvertretend für die Solisten Kurt Streit (Ulisse), Fabio Trümpy (Telemaco), Rudolf Schasching (Iro), das Orchester La Scintilla und das Publikum. Dieses ist ein gleichberechtigter Partner, dessen gespannte Aufmerksamkeit zeigt: Willy Deckers «reduzierte», zum Denken einladende Inszenierung trifft einen Nerv. Zürichs neuer «Ulisse» hat das Potenzial zur Kultinszenierung.