Ein Mann sieht Gespenster

Rolf App, St. Galler Tagblatt (12.05.2014)

Die tote Stadt, 10.05.2014, St.Gallen

Die 1920 von Erich Wolfgang Korngold komponierte Oper «Die tote Stadt» ist eine wundervolle Wiederentdeckung. Jan Schmidt-Garre inszeniert sie am Theater St. Gallen auf höchst raffinierte Weise.

Paul lebt in Brügge, er schafft es nicht, seine verstorbene Frau Marie hinter sich zu lassen. Vielmehr verehrt er sie wie eine Heilige in einem kleinen Raum, den er die «Kirche des Gewesenen» nennt. Doch sein Unbewusstes will nicht in der Trauer verharren, es will leben, will lieben.

Die intensivste Szene

In der Tänzerin Marietta taucht auch prompt jene Person auf, die ihn im Nu aus der Bahn wirft. Sie ist das Gegenbild, lustig, lebensfroh, und keine Heilige, sondern stets einem Abenteuer zugetan. Paul spürt die Macht, die ihn da zieht, doch Schuldgefühle martern ihn und nehmen düstere Gestalt an in der intensivsten Szene dieses Abends am Theater St. Gallen. Die Krise strebt ihrem dunklen Höhepunkt zu und die Oper «Die tote Stadt» von Erich Wolfgang Korngold ihrem Ende. Der Raum wird klaustrophobisch eng, eine grotesk geschminkte Prozession aus Priestern, Ministranten, Klosterfrauen quillt herein.

Der doppelte Paul

Wir sehen Paul, und zwar gleich doppelt: einmal träumend, auf der Couch, einmal sitzend, dann aufspringend. Ihm gegenüber Marietta: Sie will Marie vertreiben und bietet all ihre Ausdruckskraft auf. Ein wildes Durcheinander herrscht, das Orchester zuckt und tobt. Marietta packt Maries Zopf, Paul dreht durch. Und er erwürgt sie. «Jetzt gleicht sie ihr ganz», sagt er und schreit: «Marie!»

Dann wird es dunkel, und als es wieder hell ist, sind alle weg. Bis auf Paul. Der erwacht und stellt fest: Ich habe geträumt. Aber er weiss: In diesem Traum ist tiefe Wahrheit. Freund Frank taucht auf, Paul will mit ihm abreisen, heraus aus der toten Stadt. Marietta kommt, holt das im ersten Akt vergessene Tuch und die Blumen, zusammen gehen sie hinaus. Ob etwas aus ihnen wird? Man weiss es nicht.

Wienerisch weich endet die 1920 entstandene Oper, die in St. Gallen noch nie gespielt worden ist. Und die das Orchester vor enorme Herausforderungen stellt. Denn Korngold bietet alles auf, was er für seine irisierenden Klänge braucht: Harfen, Celesta, Klavier, Harmonium, Orgel, eine Menge Schlagzeug, Glocken, dazu ein reich besetztes Sinfonieorchester.

Musik in Erregung

Die Musik scheint stets in Erregung und Aufregung zu sein, aber sie bleibt durchsichtig, selbst wenn Korngold machtvolle Höhepunkte entwirft. Man kann Anklänge an Gustav Mahler hören, an Richard Strauss, an Giacomo Puccini, der über Korngold gesagt hat: «Er hat soviel Talent, dass er uns leicht die Hälfte abgeben könnte – und es bliebe immer noch genug davon für ihn selbst.»

Wie Dirigent Otto Tausk das grosse Orchester bändigt, der Musik Struktur und Klarheit gibt, sie so zur Dienerin der Sänger macht, das ist die eine grosse Leistung des Abends. Die andere, das ist Jan Schmidt-Garres Regie. Er steht vor der Aufgabe, ein Geschehen in Szenen zu fassen, das von der Wirklichkeit in den Traum gleitet und wieder in die Realität zurückkehrt. Er meistert sie mit überzeugenden Einfällen und eindrücklichen Bildern, zu deren Verwirklichung Vincent Lemaires raffiniert-einfaches Bühnenbild und Reinhard Traubs ebenso raffinierte Lichtregie wesentlich beitragen.

Das ist der Rahmen, in dem Paul und Marietta agieren – und deren muntere Schauspielertruppe mit dem leichtfüssigen Riccardo Botta (als Victorin), mit Fiqerete Ymeraj (als Juliette), Michaela Frei (als Lucienne), David Maze (als Fritz) und Cristian Joita (als Graf Albert). Ausserdem Frank (noch einmal David Maze), Pauls wie ein Psychiater auftretender Freund, und Brigitta (Susanne Gritschneder mit ihrer warmen Altstimme) – die Haushälterin, die in der Traumsequenz ins Kloster geht.

Singen und Spielen

Sie alle können singen und spielen. Was zuallererst für die Hauptpersonen gilt: den Tenor Stefan Vinke als Paul und die Sopranistin Molly Fillmore als Marietta. Ihnen verlangt Korngold sehr viel ab, nicht nur Stehvermögen und Dauerpräsenz auf der Bühne, sondern Stimmen, die zu ganz unterschiedlichen Schattierungen fähig sind. Und die viel Kraft haben.

Überhaupt trägt enorm zum Erfolg des Abends bei, dass er so sehr vom Spielerischen und Atmosphärischen her gedacht ist – was sich auch im mal dunkel-zurückhaltenden, mal wieder grellbunten Farbenspiel der Kostüme von Thomas Kaiser ausdrückt. Dies macht die Kontraste sichtbar, die diese Oper beherrschen und von denen sie lebt.

Ernst und getragen setzt «Die tote Stadt» ein, rasch aber fängt Paul Feuer. Dann folgt der lustvoll-verspielte Mittelteil, in dem sich die Tänzertruppe austoben darf. Bevor der eifersüchtige Paul dazwischen fährt und Marietta ihre Kumpane nach Hause schickt mit dem Satz: «Mit dem werd fertig ich allein.»

Jetzt ist die Zeit gekommen für Verführung und Totenaustreibung. Jetzt treibt die «Femme fatale» Marietta ihre Auseinandersetzung mit dem Biedermann Paul auf die Spitze. Ein letztes Mal meldet machtvoll sich sein Gewissen in Gestalt einer imposanten, von Theater- und Opernchor St. Gallen gestalteten Prozession. Dann ist der Bann gebrochen.

Begeistertes Publikum

Das Publikum reagiert begeistert mit Applaus und Bravorufen. Mit Grund: Nicht nur hat es eindrückliche Leistungen gesehen. Sondern auch ein Werk und einen Komponisten kennen gelernt, die ganz zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind.