Herbert Büttiker, Der Landbote (13.05.2014)
«Die tote Stadt», einst ein Welterfolg, heute fast ein Geheimtipp, ist im Theater St. Gallen zu entdecken: ein Opernereignis erster Güte.
Er wurde zum wegweisenden Filmkomponisten – das Klanggemälde von ozeanischer Grösse mit dem Glockengeläut der Stadt Brügge, der «toten Stadt», lässt die Hollywood-Zukunft des Komponisten Erich Wolfgang Korngold (1897–1997) durchaus erahnen. Aber als er, 23-jährig und ein Jungstar, seine dritte Oper 1920 in Hamburg und Köln gleichzeitig zur Uraufführung brachte, lebte er in Wien. Als Wunderkind vollgesogen vom Reizklima der Wiener Jahre vor dem «Weltuntergang» und kompositorisch auf der Höhe der Mahler-Strauss-Puccini-Epoche, stiess er 1916 auf den Stoff («Bruges-la-morte», der Roman des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach), der ihn zu seinem eruptiven Hauptwerk inspirierte.
Das Eruptive, das lässt die St. Galler Aufführung der Traumoper erleben, ist zuerst und vor allem Sängermagie: die des Tenors Stefan Vinke, der mit seinen aus Körpertiefe geholten Klangressourcen in weiten Legatobögen die Pathologie (wenn man so will) des Protagonisten entäussernd expressiv herausarbeitet. Es geht um Paul, der sich nach dem Tod seiner Marie mit seinen Erinnerungen im morbiden «Venedig des Nordens» eingräbt. Zufällig macht er die Bekanntschaft der leichtlebigen Marietta, die Marie gleicht und von ihm mit der Toten wahnhaft gleichgesetzt wird. Das führt zum Konflikt, auf dessen Höhepunkt Paul Marietta tötet. Jetzt erwacht er und erkennt (das Pu- blikum mit ihm), dass er geträumt hat. Im doppelten Sinn: «Ein Traum hat mir den Traum zerstört» lautet das Fazit, mit dem er sich (vielleicht) dem Leben neu zuwenden kann.
Ein Heilsprozess
Es gab Inszenierungen, die diesem Heilsprozess misstrauen und Paul im Selbstmord enden lassen. Der Regisseur Jan Schmidt-Garre wählt einen anderen Schluss. Nicht wie im Libretto vorgesehen, allein, sondern mit Marietta verlässt er den Raum, hoffnungsvoll – sofern diese nicht wieder nur das Trugbild der Marie ist. Aber doch: Die Inszenierung nimmt die Dramaturgie der Oper als therapeutisches Geschehen ernst, nicht ohne direkten Hinweis auf Sigmund Freud: An ihn erinnert in Maske und Auftreten Pauls Freund Frank (David Maze als dritte starke Figur der Aufführung), und auf der ebenso schlichten wie ausdrucksstarken, für halluzinatorische Momente auch beweglichen Bühne von Vincent Lemaire ist die berühmte Couch des Seelenarztes das zentrale Requisit.
Auf ihr erlebt Paul die Strassenszene des zweiten Bildes als psychiatrisch präparierte innere Vorstellung, und die dramatische Zuspitzung im dritten in einer Spaltung seiner Persönlichkeit. Dafür bringt die Regie überaus eindrücklich ein Double ins Spiel. Raffiniert ist die Inszenierung aber auch dort, wo sie sich verweigert. Den «Altar» mit Maries Bild, das für Paul lebendig werden kann, sieht man nicht. Umso suggestiver, hallverstärkt, die Stimme der Marie aus dem Off: Molly Filmore ist mit ausdrucksvollem Sopran in diesen traumlyrischen Momenten wie in der Dramatik der Marietta-Szenen vital und herausfordernd Pauls starker, wenn auch nicht immer ganz so konziser Widerpart.
Das Orchester gibt der selbstbewussten Marietta die aggressive Energie der Tanzrhythmen. Überhaupt ist Korngolds Rhythmik ebenso eklatant wie seine Orchestrationskunst. Beides stellt das Orchester unter der Leitung von Otto Tausk bravourös heraus. Dramatik (Vorspiel), expressionistische Geste (Solotrompete!) kommen hinzu, dazu das feine Sentiment der Phrasierung, zum Sterben schön im «Lautenlied» zusammen mit den beiden Protagonisten.