Realismus ohne Deutung

Thomas Sxchacher, Neue Zürcher Zeitung (24.06.2014)

La fanciulla del West, 22.06.2014, Zürich

In der Oper geben die Stimmlagen auch über den Charakter der Figuren Aufschluss. Tenöre sind die Helden, Baritone gemischte Charaktere, während Bässe entweder Bösewichte oder Autoritäten darstellen. Dies kann man auch in Giacomo Puccinis Oper «La fanciulla del West» beobachten. Dick Johnson singt, obwohl er eine Räuberbande anführt, Tenor; er wird also ein gutes Ende nehmen. Rance, der als Sheriff für Ruhe und Ordnung im Lager der Goldgräber sorgen muss, hat zuletzt eine Zwei am Rücken. Er blitzt bei der Schankwirtin Minnie, einem dramatischen Sopran, ab. Steht Puccini mit solchen Zuordnungen ganz in der Tradition der italienischen Oper von Bellini, Donizetti und Verdi, so entfernt sich sein musikalischer Stil aber deutlich von seinen Vorgängern.

Unwiderstehlicher Sog

Noch radikaler als in «La Bohème», «Tosca» und «Madama Butterfly» ist in «La fanciulla del West» das Orchester mit seinen Klangfarben und Leitmotiven Träger des musikalischen Geschehens, während die Melodien der Sänger oft einen rezitativisch-deklamatorischen Duktus aufweisen. In diesem «Sinfonismo» gibt es durchaus Berührungspunkte mit Wagner. Über den Erfolg einer Realisierung dieser Oper entscheidet also in erster Linie die Leistung des Orchesters. Die Neuproduktion von «La fanciulla del West» am Opernhaus Zürich mit der Philharmonia Zürich unter der Leitung von Marco Armiliato bestätigt dies aufs Neue. Der italienische Dirigent, der das ganze Belcanto-Repertoire beherrscht, hat das Riesenorchester fest im Griff und verschafft ihm dennoch den erforderlichen Spielraum. Da entstehen unter seiner Stabführung die grossen Ausbrüche, die Tumultszenen, das Sentimentale, die lyrischen Inseln und dieser unwiderstehliche Sog, der für Puccini so charakteristisch ist. Dass dabei die Protagonisten auf der Bühne gelegentlich überdeckt werden, stört für einmal nicht, es gehört gewissermassen zur Struktur dieser Oper.

Eine Knacknuss bei jeder «Fanciulla»-Produktion bildet die Besetzung der Minnie, der einzigen weiblichen Rolle (abgesehen von der winzigen Rolle der Indianerin Wowkle). Mit der Amerikanerin Catherine Naglestad, die unter anderem als Tosca bekannt geworden ist, gibt in Zürich eine Minnie ihr Rollendebüt, die die Widersprüchlichkeit dieses Charakters in der ganzen Breite wiedergibt. Als Kneipenbesitzerin und Hüterin des Tresors der Goldgräber versteht sie sowohl mit dem Colt als auch mit der Bibel umzugehen. Keiner der Männer, die alle sexuell ausgehungert sind, darf sie anrühren, aber dem Banditen Johnson gegenüber erweist sie sich als verletzliche und liebesbereite Frau. Zur Umsetzung dieses Charakters verfügt Naglestad über eine Stimme von Kraft und Sinnlichkeit, Farbenreichtum und grossem Umfang.

Was den Tenor und den Bariton betrifft, meidet der Regisseur Barrie Kosky die Schwarz-Weiss-Malerei der Rollenklischees. So ist der Dick Johnson von Zoran von Todorovich eben nicht nur der strahlende Heldentenor; seine Stentorstimme in den hohen Lagen wirkt manchmal auch bedrohlich. Andererseits benimmt sich der Jack Rance von Scott Hendricks sehr menschlich. Wenn der entfesselte Mob der Goldgräber den Tod Johnsons fordert, zögert der Sheriff mit dem Richterspruch. Der Männerchor der Oper Zürich dagegen passt als lärmender, saufender und schiessender Haufen bestens ins Klischee.

Der stilisierte Realismus des Regisseurs, seines Bühnenbildners Rufus Didwiszus und seines Kostümbildners Klaus Bruns geht nicht so weit, die Goldgräbergeschichte von «La fanciulla del West» am Fuss der Sierra Nevada im Kalifornien des 19. Jahrhunderts anzusiedeln. Die Männer mit ihren Helmen und Stirnlampen könnten auch aus einer heutigen Goldgräbermine in Südafrika stammen. Die Polka-Bar des ersten Aktes sieht nicht wie in einem Westernfilm aus, aber Whiskyflaschen und Pistolen bilden unerlässliche Requisiten.

Keine schlüssige Deutung

Am meisten Realismus verbreitet Minnies erdrückend kleine Wohnung mit dem Bett, unter dem sich der angeschossene Johnson verstecken kann. Relativ abstrakt ist das Bühnenbild des dritten Akts. Kein kalifornischer Urwald ist da zu sehen, sondern eine Steinwüste, die sich aber in den Grenzen der Bar des ersten Akts befindet.

Was bei diesem stilisierten Realismus der Inszenierung fehlt, ist eine schlüssige Deutung des Geschehens. Dass Männer, wenn sie abgeschieden unter sich sind, zu Bestien werden können, weiss man beispielsweise aus Kriegsberichten. Dass geschundene Lohnarbeiter die Opfer gewinnsüchtiger Unternehmer sind, ist auch bekannt. Doch Barrie Kosky will da weder politische noch gesellschaftliche Deutungsmodelle herbeiziehen. Bleibt noch die psychologische Ebene, die sich für die Dreiecksgeschichte zwischen Minnie, Rance und Johnson anbieten würde. Aber auch da bleiben die Aussagen unscharf. Geradezu verschenkt ist der Schluss: Nachdem man während zweieinhalb Stunden nur die vordere Hälfte der Bühne gesehen hat, böte sich beim Weggang von Minnie mit dem geretteten Johnson die ersehnte Chance, die Rückwand endlich zu öffnen und die Befreiung optisch auszudeuten. Doch das Liebespaar schleicht durch eine Seitentüre ab.