Minnie in Zürich – eine goldene Seele ganz weit unten

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (24.06.2014)

La fanciulla del West, 22.06.2014, Zürich

Eine wirklich festspielwürdige Aufführung präsentierte das Opernhaus Zürich am Sonntag: Puccinis Oper «La Fanciulla del West» wurde für die Inszenierung von Barrie Kosky, aber auch für Dirigent, Orchester und Sänger zum Triumph.

Wir sind nicht unbedingt im Wilden Westen, aber sicher ganz weit weg, ganz weit unten, am Rand der Zivilisation. Vom Goldrausch bleiben verschmierte Gesichter und billiger Whisky statt Reichtum. Man wird an die Wanderarbeiter in Asien oder die Kumpel in den Minen der Dritten Welt erinnert. Was Minnie hierher verschlagen hat, kann uns auch Barrie Kosky nicht plausibel machen. Aber dass die Barbesitzerin eine goldene Seele ist, der einzige Lichtblick im tristen Leben dieser Männergesellschaft, das zeigt der australische Regisseur eindrücklich.

Sie hat hier nichts Kokettes wie in manchen Inszenierungen, sie spielt niemanden gegeneinander aus, sie hat es nicht nötig, mit ihrer Waffe zu fuchteln, aber sie bekommt dennoch, was sie will, sogar den Banditen Johnson gegen den vehementen Widerstand der gesamten Gemeinschaft. Diese Männer stehen sicht- und hörbar unter Strom, finden nur in Spiel und Alkohol ein wenig Trost: eine Spannung, die sich jeden Moment zu entladen droht. Das zeigt Kosky eindrücklich.

Fast filmischer Realismus

Kaum aber betritt Minnie die Szene, sind sie nicht wiederzuerkennen: Lammfromm stammeln sie lahme Ausreden, schenken ihr artig Blümchen und Seidenbänder, und wenn sie zur Bibelstunde ruft, dann scharen sie sich wie Lämmchen um sie; glücklich, den Kopf kurz an ihrem Knie anlehnen zu dürfen.

Puccini hat seine «Fanciulla» in einem fast filmischen Realismus komponiert, in einem sehr exakten Timing, was Handlung, Szene und Requisiten betrifft. Dem kann sich ein Regisseur kaum entziehen, und Kosky hat das auch nicht versucht. Originell ist er nur in der Zeichnung der Eingeborenen, die bei Minnie wohnt. Sie wird hier zum verhaltensauffälligen grossen Kind mit Conchita-Bart und einer nach Kräften malträtierten Puppe statt des Babys. Ansonsten pflegt Kosky einen stimmigen und handwerklich sehr solid und detailliert geführten Realismus in der klaustrophobischen Atmosphäre der Bunker-Bühne von Rufus Didwiszus.

Komplexes gut gemeistert

Puccini schrieb für «Fanciulla» auch seine vielleicht farbigste, reichste, raffinierteste Partitur. Zwar fehlt auch hier die süffige Melodik keineswegs, aber sowohl in den Gesangspartien, wie vor allem auch im Orchester sind zahlreiche Zwischentöne zu hören. Die Orchesterbehandlung ist herausragend, braucht sich vor Richard Strauss nicht zu verstecken. Gewisse Momente erinnern sogar an impressionistische Farbschichtungen à la Debussy.

Für die komplexen Feinheiten dieser vielschichtigen Partitur stand mit Marco Armiliato genau der richtige Mann am Pult. Zwar verschenkte er nichts von der leidenschaftlichen Glut dieser Melodien und von der aufrauschenden Dramatik der aufgewühlten Szenen, aber er blieb dynamisch immer sehr wach, wusste stets genau, welche Stimme er wie stark hervorheben wollte, und orientierte sich dabei auch nicht ausschliesslich an den Vorgaben der Solisten. Denn weniger als in «Butterfly» oder «Tosca» lässt Puccini hier die Gesangslinien unisono vom Orchester begleiten, öfter kommentiert das Orchester oder biegt in klanglich und farblich andere Sphären ab, während die Sänger noch in ihren Kantilenen schwelgen dürfen.

Hervorragend gesungen

In der amerikanischen Sopranistin Catherine Naglestad hatte Zürich auch eine ungemein flexible, in der Dynamik klug dosierende und in den Farben wach gestaltende Sängerin für die Hauptrolle. Neben dieser schlicht sensationellen Minnie verblassten die beiden Männer ein wenig. Zu Unrecht zwar, denn auch Zoran Todorovich gestaltete den Dick Johnson differenziert, mit intaktem Tenorschmelz und vehementer Dramatik. Und sein Widerpart Scott Hendricks gab dem Jack Rance mit stimmlich abwechslungsreichen Mitteln vielschichtige Züge. Die vierte Hauptrolle (neben sehr vielen kleinen, durchweg gut aus dem Esnemble besetzten kleineren Partien) gehört in der «Fanciulla» dem Chor, der seine Aufgaben ebenfalls klanglich herausragend und technisch präzis löste.