Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (24.06.2014)
Als Westernoper fordert Puccinis «La fanciulla del West» die Parodie geradezu heraus. Starregisseur Barrie Kosky zeigt nun im Zürcher Opernhaus, dass man das Stück auch ernst nehmen kann.
Spielkarten knallen auf den Tisch, Köpfe knallen gegen die Wand, so ist das im Wilden Westen. Oder so war das in jener Fantasie des Wilden Westens, die Giacomo Puccini 1910 in Musik übersetzt hat. Und so ist das nun auch in der Festspiel-Inszenierung von «La fanciulla del West», mit der Barrie Kosky sein Zürich- und Puccini-Debüt gibt.
Den Wilden Westen zeigt Kosky, der sich in den letzten Jahren vom gefeierten Enfant terrible zum gefeierten Nachfolger von Andreas Homoki an der Komischen Oper Berlin entwickelt hat, zwar nicht. Keine Cowboyhüte, keine Pferde wie damals an der umjubelten Uraufführung an der New Yorker Met, kein Sheriffstern. Denn es ist ja doch einiges passiert in den letzten 104 Jahren, vor allem hat der damals noch junge Film den Western schon bald und endgültig für sich entdeckt. Das hat mit dazu beigetragen, dass sich «La fanciulla del West» nie wirklich etablieren konnte. Und es sorgt heute dafür, dass Regisseure dieser Oper entweder die Filmgeschichte in ihre Inszenierung einbeziehen, wie das David Pountney bei seiner amüsanten Zürcher Produktion von 1998 tat. Oder, wie nun eben Barrie Kosky, die Essenz des Werkes an einem nicht weiter verorteten anderen Ende der Welt suchen.
Puccinis emanzipierte Heldin
Denn was sich abspielt zwischen Puccinis Goldsuchern, lässt sich ohne weiteres auf andere Männergesellschaften übertragen. Eine schäbige Bar wie jene, die Rufus Didwiszus auf die Bühne gestellt hat, könnte überall sein. Und überall würde getrunken und gestritten, wie es hier die schauspielerisch geradezu entfesselten Chorherren und Protagonisten tun. Wie da einer sich den von Klaus Bruns entworfenen Mineur-Helm vom Kopf nimmt, wenn ein anderer vom Tod der Grossmutter erfährt; wie man einen tröstet, der durchdreht vor Heimweh, und gleich darauf einen anderen wegen einer kleinen Mogelei lynchen will: Das ist so präzis wie musikalisch, so detailgenau wie massenwirksam umgesetzt. Wenn dann Minnie hereinkommt, die einzige Frau in dieser Ödnis, streicht sich einer noch rasch die Frisur glatt – mehr braucht es nicht, um zu zeigen, um welche Sonne sich die Erde hier dreht. Und um zu ahnen, was passieren wird, wenn diese Sonne mal für jemand anderen scheinen will.
Minnie wird von Catherine Naglestad verkörpert, und dass dieses Rollendebüt so wunderbar klappt, ist nicht selbstverständlich. Denn Naglestad ist keine «fanciulla», kein Mädchen mehr; dass sie sich ihren ersten Kuss immer noch aufgespart hat für den Richtigen, der dann als zunächst unerkannter Verbrecher Ramerrez in ihre Bar kommt, mag man ihr nicht so recht glauben. Aber dafür alles andere: die herbe Herzlichkeit, mit der sie die Raufbolde im Zaum hält; die Unabhängigkeit, mit der sie ihre eigenen Träume träumt; die Konsequenz, mit der sie sie durchsetzt.
Dass Naglestad sich in letzter Zeit zu Wagner vorgesungen hat, ist dabei nicht zu überhören. Ihre Stimme hat Substanz und Kraft, Minnies Unschuld klingt nie naiv, sondern lebenserfahren und zwischendrin betont bodenständig. Es ist nur selten die Stimme eines Mädchens, das sich nach der grossen Liebe sehnt; weit öfter ist es die Stimme einer emanzipierten Frau, die für diese Liebe auch mal mit falschen Karten spielt.
Also genau die richtige Stimme für Minnie, die unabhängigste aller Puccini-Heldinnen, die sich sogar um die Gewohnheiten ihres Komponisten foutiert. Der pflegte seine Protagonistinnen ja sterben zu lassen – Mimì, Tosca und Madama Butterfly überleben ihre Liebe nicht. Minnie dagegen schon, und mehr noch: Sie schnappt sich den Mann, den sie will. Am Ende ziehen sie zusammen ins Glück, und der Sheriff steht, zumindest in Koskys Inszenierung, mit der Pistole an der Schläfe da.
Der Böse ist gut, der Gute laut
Dieser Sheriff ist die zweite starke Figur des Stücks. Scott Hendricks gibt ihn als einen, der durchaus nicht nur böse ist – er ist kein Scarpia, obwohl er ziemlich weit gehen würde, um Minnie zu kriegen. Bis zum Mord an ihrem Geliebten zum Beispiel, wenn er sich denn durchsetzen könnte bei den Männern, die am Ende doch auf Minnies Seite sind. Auch vokal ist dieser Sheriff eine vielschichtige Figur, neben der Härte ist Wärme in Hendricks’ Bariton, Einsamkeit, Verzweiflung: Was nur, so singt er immer wieder, findet Minnie an diesem Ramerrez?
Die Frage stellt man sich auch im Publikum. Denn Zoran Todorovich als Ramerrez ist vor allem eines: laut. Als Sänger, der seine Melodien herausbrüllt, als sei er in einem Stadion. Und als Darsteller, der seine Wandlung vom Halunken zum Liebenden so holzschnittartig absolviert, dass es fast parodistisch wirkt.
Wobei er zumindest vokal seine Gründe hat für den Kraftakt: Mit Subtilitäten hätte er sich gegenüber der Philharmonia Zürich kaum durchsetzen können. Der Dirigent Marco Armiliato (dessen Grossmutter Puccini noch persönlich gekannt haben soll) setzt von Beginn weg auf die ganz grosse Geste, den ganz süffigen Sound. Das passt zu diesem Stück, das anders als die berühmteren Puccini-Opern zwar keinen wirklichen Hit enthält, aber doch so viele eingängige Melodien, dass sich Andrew Lloyd Webber für sein «Phantom of the Opera» ungeniert bedienen konnte. Und eine so originelle Instrumentierung, dass selbst Anton Webern über die «ganz besonderen Klänge» staunte.
Die Gewalt und die Liebe, das Kartenspiel und der finale Thrill um Leben und Tod: Das alles ist in geradezu szenisch konkrete musikalische Chiffren gefasst, und natürlich kann man jede davon mit einem Ausrufezeichen versehen. Wenn dazu der von Jürg Hämmerli vorbereitete Chor in seiner ganzen Wucht auftritt oder Catherine Naglestad ihre Stimme lodern lässt, dann packt das. Aber Dialoge wie jene der Ensemblesänger in der Bar werden zum Hintergrundgeplauder degradiert (einzig Pavel Daniluks Charakterbass kann sich zuverlässig durchsetzen). Schade: Denn was man hörte, wenn man etwas hörte, war erfreulich.
Schade auch, weil die Inszenierung durchaus Zwischentöne findet. Nur selten wird sie grob, etwa wenn wieder mal eine Puppe zerpflückt wird, wo eigentlich ein Kind in den Schlaf gesungen werden sollte – diese doch ziemlich abgestandene Reverenz ans eigene Provokantentum hätte sich Kosky sparen können. Die ebenfalls klischierten Kniefälle der Männer vor Minnie am Ende dagegen sind eher Belege dafür, wie schwer es diese Oper einem Regisseur macht, der sie ernst nimmt und nicht auf eine amüsante Kuriosität reduziert.
Dass er mit dieser Haltung das Allgemeine im Western gefunden hat und das Spezielle in jeder einzelnen Figur: Das ist das grosse Verdienst von Barrie Kosky. Und dass er in einer Umbaupause einen Banjospieler vor den Vorhang setzt, der Puccinis italienische Klangwelt doch noch in den Wilden Westen versetzt: Das ist eine jener Pointen, für die das Publikum diese «Fanciulla del West» zu Recht bejubelte.