Amore, amore! Paradiso, inferno …

Herbert Büttiker, Der Landbote (24.06.2014)

La fanciulla del West, 22.06.2014, Zürich

Die Liebe ist auch ein Pokerspiel: In Giacomo Puccinis «La fanciulla del West» herrschen raue Sitten und herb ist auch die Musik. Mit Catherine Nagelstad an der Spitze eines grossartigen En­sem­bles macht das Opernhaus klar, wie sehr es sich um ein Werk der Moderne handelt.

Minnie heisst das Mädchen im «Goldenen Westen», Besitzerin der Polka-Bar und mit ihrer «30-Dollar-Bildung» Lehrerin der Goldgräbersippe im Kalifornien der Goldrauschjahre um 1850. Besser würde man von einer Horde reden und von der Dompteurin: Minnie weiss mit Pistolen umzugehen, sie hält in Sachen Whisky mit den Männern mit und sie ist kaltblütig genug, mit falschen Karten die Pokerpartie um das Leben des von ihr geliebten und verfolgten Banditen Dick Johnson für sich zu entscheiden. Vor allem aber hat Minnie ein gutes Herz, und dieses ist ihre stärkste Waffe. Dank ihm rettet sie Johnson am Ende vor dem Galgen, an dem ihn vor allem Jack Rance, Sheriff und erfolgloser Mitbewerber um die von allen begehrte und eben auch einzige Frau in der Goldgräbersiedlung, baumeln sehen wollte.

Wildwestromantik kommt im Zürcher Opernhaus nicht auf. Barrie Koskys Inszenierung lässt weder an Kalifornien noch an Goldwäscher um 1850 denken. An der Theke der Polka trinken, lärmen und raufen Minenarbeiter mit Helmen und Stirnlampen – die ramponierten Mauern und Täfer verweisen auf einen gottverlassenen Ort irgendwo, wo ein zusammengepferchtes Bataillon von Männern mit ihren animalischen Ausbrüchen und unterdrückten Sehnsüchten, ihren Sauf- und Aggressionsritualen ein tristes Leben fristet.

Trieb- und Idealwelt

Kaserne, Arbeitslager, die Barackensiedlung von Wanderarbeitern – die Oper des 20. Jahrhunderts wird nach Puccinis «La fanciulla del West» (uraufgeführt an der Metropolitan Opera am 10. Dezember 1910) diese Schauplätze noch zu universellen Metaphern machen. Man denkt an Bergs «Wozzeck» (1925), Janáčeks «Aus einem Totenhaus» (1930), Zimmermanns «Soldaten» (1965). Puccini ist da auf dem Weg, allerdings akzentuiert er nicht das gesellschaftliche Moment, sondern das psychologische: Der Unort ist die Konfliktzone, wo Trieb- und Idealwelt kollidieren: «Amore, amore! Paradiso, inferno, è quel che è: Tutto il dannato mondo s’innamora!»

Mit «komischer Philosophie» sagt dies der Barkeeper Nick zu Rance im dritten Akt, und sie bestimmt auch die Perspektive der Inszenierung, die die Erzählung mit allen Ingredienzen von Whisky, Pistolen und Faustschlägen ernst nimmt und die Bühne vor Männlichkeit gleichsam dampfen lässt. Bis Minnie, das unberührte Flintenweib und die schwesterliche Seele aller, erscheint und die Raufbolde so in Bann schlägt, dass sie kindlich fromm niederknien und sich ihre Predigt von der «höchsten Erkenntnis der Liebe» anhören.

Ein grosser Abend

Dass das alles ein urbanes Publikum von heute nicht nur komisch, sondern eben philosophisch-komisch erreicht, hat zum einen mit Puccinis emotional starker Musik zu tun, die den Liebhaber von «Bohème» und «Butterfly» in ihrer Herbheit und expressiven Schärfe überraschen kann – selbst die Kussszene spart nicht mit dissonanten Akkorden und den zackigen Gesten einer Sturmmusik. Die Philharmonia Zürich hat unter der Leitung von Marco Armiliato einen grossen Abend und lässt die farbenreiche Partitur in allen ihren schwelgerischen und atmosphärischen Facetten konturen­klar leuchten. Satte Rhythmik und ausgreifendes Espressivo wirken gleichermassen kon­trol­liert und gebündelt im Zusammenspiel der Bühne.

Ebenso grossartig ist, was hier der Männerchor und die vielen Solisten darstellerisch wuchtig und dabei sängerisch fokussiert leisten. Das zeigt sich zumal im episodenreichen ersten Akt mit dem gewieften Kellner Nick, dem heimwehkranken Larkens, dem Falschspieler Sid, dem eifersüchtigen Sonora und den vielen andern, die sich in der Bar drängen. Selten erlebt man auf der Opernbühne solch «filmreife» und doch theatrale Choreografie wie hier in der Masse voller geballter Aktion, aufgesplitterter Betriebsamkeit und hypnotisierter Stille.

Behutsam drastisch

Profilierte Regie zeigt sich auch darin, wie im präzisen Getümmel die drei Prot­ago­nis­ten ins Spiel kommen. Deren Stunde schlägt allerdings im zweiten Akt, wo «La fanciulla del West» in Minnies Behausung zum Thriller mutiert, aber auch die szenisch-musikalische Arbeit an den Charakteren kulminiert. Hat in der ersten Szene Minnies Dienerpaar einen fragwürdig forcierten Auftritt, so fällt dann auf, wie behutsam, differenziert, fern aller Peinlichkeit, aber drastisch die Prot­ago­nis­ten die Liebes-, Poker- und Vergewaltigungsszene spielen.

In der veristisch exorbitanten stimmlichen Verausgabung souverän agiert Catherine Nagelstad mit ihrem opak leuchtenden, nuancenreichen Sopran: Was im Konstrukt der Handlung als Kunstfigur erscheint, macht sie auf der Bühne glaubwürdig zur berührenden Figur. Desgleichen Zoran Todorovich, dem man die schillernde Figur des rabiaten Banditen und Casanovas Dick Johnson abnimmt, der in der Begegnung mit Minnie zu einem anderen Menschen wird und auch stimmlich im letzten Akt mit der Phrase über das hohe B hinweg über sich hinauswächst.

Auch Scott Hendricks, der mit währschaftem Bariton den Jack Rance gibt, trägt viel dazu bei, dass der Abend alle Kolportage hinter sich lässt. Die Inszenierung rückt ihn am Ende ins Zen­trum, kein Perverser à la Scarpia, sondern eine tragische Figur. Während Minnie und Johnson, in höchsten Tönen «Addio, mia California» singend, ins Paradies der Liebe entschwinden und die Männer sottovoce Minnie wehmütig nachtrauern, hält Rance in der Hölle der Liebe stumm den Pistolenlauf an seine Stirn – ein Schlussbild, das in seiner Stimmigkeit und Konsequenz für den ganzen Abend und die Wahrheit von Puccinis Musik steht und – der aufbrausende Jubel zeigte es – auch so verstanden wurde.