Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (24.06.2014)
Puccinis Opernwestern «La fanciulla del West» ist modern und doch realistisch inszeniert
Zugegeben: Beim Gang zum Opernhaus dachten wir, dass dieser Abend ein Ärgernis werden würde. So à la Zürcher «Don Giovanni» 2013: viel Geschrei um nichts. Nach Vorhangfall dann, da hätten wir noch so gerne in den enthusiastischen Chor der Zürcher Bravo-Rufer eingestimmt...
Der meist mit U- und E-Elementen munter jonglierende Regisseur Barrie Kosky erzählt Giacomo Puccinis «La fanciulla del West» mit einem so unheimlichen Sog, dass man vor Spannung bisweilen kaum stillsitzen kann. Dabei ist diese 1910 uraufgeführt Oper ein Stiefkind der Opernwelt. Selbst Opernturbo Alexander Pereira liess das Werk in 21 Zürcher Jahren nur einmal inszenieren. David Pountney besorgte das im Juli 1998 bestens. Unnötigerweise redet sich der 47-jährige Kosky von der damals gezeigten Western-Romantik im aktuellen Programmheft frei. Dabei erwartete ja niemand, dass die Titelheldin Minnie in der berüchtigten Pokerparty die Asse aus einem rüschchenverzierten Strumpfband zieht.
In «La fanciulla del West» wird nicht nur ums Leben gepokert, sondern vor allem mit Whisky gegen das Grau des Lebens angetrunken. Trotz allem wird die Heldin Minnie das Finale im Unterschied zu ihren Puccini-Schwestern Tosca, Mimi, Butterfly und Manon überleben, obwohl sie zusammen mit einem Dieb, einem Sheriff und einer Horde Goldgräber in einer üblen Geschichte steckt.
Kosky versetzt die Handlung ans Ende der Welt oder noch paar hundert Meter weiter bergab. Ob Goldwäscher oder Minenarbeiter: Dieses triste Loch passt. Der hyperrealistischen Regie fehlt es an keinem einzigen Staubkorn. Kosky schaffte es zu zeigen, wie einfach es wäre den Anspruch von Intendant Andreas Homoki einzulösen, also die alten Operngeschichten für ein heutiges Publikum zu erzählen.
Es gelingt dank seiner bis ins Detail präzisen Personenführung. Neben diesem lodernden Realismus überrascht Kosky durch choreografische Sequenzen, in denen die zarten Träume und grossen Ängste der Goldgräber berührend nah gezeigt werden. Das geht bis zum Kitsch, doch davon liessen sich wahre Opernfreunde noch nie stören. Kein Geringerer als Puccini weist Kosky hierbei den Weg.
Dirigent Marco Armiliato kostet diese süffigen Stellen aus, bändigt aber die wilden Orchesterkräfte des Werks überaus sängerfreundlich.
Frauen lieben Arschlöcher
Das Beste an der Sache: Wo das Orchester so gut spielt und so toll geschauspielert wird, müsste nicht einmal exzellent gesungen werden. Das gelingt den Protagonisten aber dennoch. Und Zufall oder nicht: Die Stimmcharaktere passen ideal zu den von Kosky gelenkten Zügen. Der vermeintlich hölzerne Sheriff Jack Rance erhält durch Scott Hendricks Bariton warme, sympathische Züge. Es nützt ihm leider wenig. Zoran Todorovich als gaunernder und lügender Dick Johnson trumpft mit seinem baritonal gefärbten Tenor selbstgerecht und stolz auf. So wird dieser Held noch eine Spur unsympathischer – und kriegt Minnie... Jack kann in Internetblogs nachlesen, warum frau solche famosen Arschlöcher liebt.
Die grossartige Catherine Naglestad verkörpert Minnie perfekt. Kaum auf der Bühne, kippt die gute Menschin von Kalifornien einen Whisky hinunter. Als Seelenwärmerin lehrt sie den Goldgräber alsbald die Bibel.
Ein wilder Haufen Verlorener sind sie, diese Goldsucher, bald mehr Tier als Mensch. Im Dreck suchen sie nach Glück und verlieren ihr Leben. Das Pianissimo zum Schluss spiegelt ihre Zukunft... Wohin sie Minnie und Dick führen wird, bleibt genauso ungewiss. Zum Glück kommts bisweilen viel besser, als man vorher denkt, wie dieser Poker-, Pardon!, Festspielabend uns selbst bewies.