Frostiges Spiel mit Ambivalenzen

Michelle Ziegler, Neue Zürcher Zeitung (04.11.2014)

The Turn of the Screw, 02.11.2014, Zürich

«The Turn of the Screw» in Zürich

Eine Neuproduktion, die viel wagt und jedes Lob verdient. Perspektivenwechsel bestimmen die szenische Umsetzung. Und dank der Musik kommt das abgründige Geschehen eindringlich zur Geltung.

Die Lektüre von Henry James' Novelle «The Turn of the Screw» mündet unweigerlich in Fragen: Wird hier bloss eine viktorianische Geistergeschichte erzählt? Oder handelt es sich bei den Geistern um Halluzinationen der Gouvernante, die sich in einem englischen Landhaus in Bly um zwei Waisenkinder kümmert? Ist die Fixierung der Gouvernante auf den Knaben Miles natürlich und notwendig oder krankhaft? Sind die Kinder ihrerseits tatsächlich so unschuldig, wie sie scheinen? Oder haben sie sich in ihrem bösen Treiben gar zusammengeschlossen mit den Geistern?

Projektionsfläche

Der Autor schildert das Geschehen bewusst rätselhaft und lässt verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu. Das Grandiose an der Oper «The Turn of the Screw», die Benjamin Britten 1954 in Zusammenarbeit mit der Librettistin Myfanwy Piper zu Papier gebracht hat, besteht darin, dass diese Mehrdeutigkeiten nicht nur bewahrt, sondern noch akzentuiert werden. Das eigenwillige Meisterwerk aus dem Repertoire des 20. Jahrhunderts ist nun erfreulicherweise am Opernhaus Zürich zu sehen.

Und der Produktion gelingt es, die bei James und Britten angelegte Offenheit beizubehalten: Sie schafft eine quasineutrale Projektionsfläche für unzählige Fragen. Das Regieteam um Willy Decker, der die neue Produktion zwar begonnen hatte, aber aus Krankheitsgründen an den Spielleiter Jan Essinger abgeben musste, hat einen sauberen, klinisch kühlen Raum geschaffen. Auf der von Wolfgang Gussmann entworfenen Drehbühne steht ein Gebäudeteil mit drei Wänden. Innen- und Aussenräume gehen ineinander über. Die Einrichtung ist schlicht: weisse Stühle, ein weisses Sofa, ein weisser Flügel, ein weisses Puppenhaus.

Da sich die Bühne bald schneller, bald langsamer dreht, wechselt für den Zuschauer die Perspektive beständig. Sein Blick auf das Geschehen verändert sich wie jener des Lesers der Novelle. Mit einfachen Kostümen im Stil der fünfziger Jahre und starkem Lichteinfall (Lichtgestaltung: Franck Evin) ergeben sich immer wieder ungemein starke Bilder, die an Edward Hopper erinnern. In dieser kühlen Umgebung können sich die Figuren nirgends zurückziehen. Wie Puppen sind sie unsichtbaren Kräften ausgesetzt.

Im Zentrum des Geschehens steht die Gouvernante, die den Stress der Verantwortung, den ihre Position mit sich bringt, nervlich schlecht bewältigt. Layla Claire lässt die untergründig schwelenden Wünsche und Ängste dieser Frau selten sichtbar werden. In den wenigen Momenten, in denen sie es dennoch tut – etwa während der Anreise –, zeigt sie mit einem warmen Piano feine stimmliche Nuancierung. Im Kontrast zur Gouvernante steht Hedwig Fassbender als die alte Haushälterin Mrs. Grose mit beiden Füssen fest auf dem Boden. Unnahbar geben sich die beiden Kinder Flora (Emma Warner) und Miles (James Dillon). Die Unsicherheit, mit der Dillon sein Lied «Malo» in der Lateinstunde gestaltet, bestärkt für einen Augenblick die Hypothese der kindlichen Unschuld. An sie glaubt man auch in anderen Momenten, etwa dann, wenn Miles und Flora in der Badewanne das Kinderlied «Tom, Tom the piper's son» singen.

Aus derselben Badewanne steigt gleich darauf der ehemalige Diener Quint – oder zumindest dessen verkommener Geist –, der gemeinsam mit seiner Geliebten Miss Jessel für die düsteren Ereignisse im Haus verantwortlich gemacht wird. Wirkten die anderen Figuren am Premierenabend noch etwas distanziert, so versah Pavol Breslik diese Gestalt mit einer phänomenalen Präsenz. Zusammen mit den mit ihr identischen Phantomen sorgte Giselle Allen als Miss Jessel für einen schauerlichen Moment, wenn sie im zweiten Akt die Gouvernante bedrängt.

Wer hat was getan?

Die strenge formale Struktur der musikalischen Komposition wird dadurch betont, dass der Vorhang nach jeder der insgesamt sechzehn Szenen fällt. Bei Constantin Trinks und dem 13-köpfigen Ensemble der Philharmonia Zürich stand an der Premiere indes weniger die formale Strenge im Vordergrund als das Dramatische der Partitur. Sie liessen das «Thema» nach dem Prolog versponnen, gespenstig auftauchen und in seinen zwölf verlängerten Tönen zur ersten Szene hin gewaltig anschwellen. In einigen Variationen der Orchester-Zwischenspiele und in einigen Übergängen liess Trinks noch jene Klarheit und jene entspannten Tempi vermissen, die das Abgründige und Groteske der Musik unterstreichen. In der Passacaglia der letzten Szene fand er dann jedoch die notwendige Dringlichkeit, wodurch sich die Spannung zum tragischen Ende von Miles' Tod erbarmungslos verdichtete. Angemessen konsterniert liess einen danach die abschliessende Frage der Gouvernante zurück: «What have we done between us?»