Sigfried Schibli, Basler Zeitung (19.09.2014)
Am Theater Basel wird die fünfaktige Oper «Hoffmanns Erzählungen» von Jacques Offenbach neu gelesen
Manche Leute glauben, ein Mann oder eine Frau suche im Leben auch bei häufigem Partnerwechsel doch im Grunde immer dieselbe Person. So übertrieben das im realen Beziehungsleben auch sein mag – für eine Figur der Operngeschichte gilt es allemal: für den Dichter E. T. A. Hoffmann, dem Jacques Offenbach mit «Les Contes d’Hoffmann» ein überlebensgrosses Denkmal gebaut hat.
Sein Ein und Alles ist die Opernsängerin Stella, die Hoffmann verlassen hat, worauf er sich auf die letztlich erfolglose Suche nach der Idealfrau begibt. Erst ist das die Koloraturen zwitschernde Olympia, die sich als mechanischer Apparat erweist. Dann die Sängerin Antonia, die an ihrem eigenen Gesang zerbricht. Schliesslich die venezianische Kurtisane Giulietta, die ihn schmählich betrügt. Die Frau als Puppe, als Künstlerin und als Hure – das ist die Trinität des Dichters Hoffmann, die nie zur Identität in einer Person findet.
Aus zwei mach eins
Treu an Hoffmanns Seite bleibt nur Stellas Rivalin, die Muse, die sich als Niklaus verkleidet und ihn durch seine Liebesabenteuer begleitet. In der gekürzten Basler Produktion der fünfaktigen Oper tritt Stella nicht leibhaftig in Erscheinung, hier fallen Muse und Stella in einer Person zusammen. Es ist ein Trick des Regisseurs Elmar Goerden, der Folgen hat. Als Konsequenz seiner Personalentscheidung lässt er die Muse ganz Frau bleiben, während sie im Stück ja eigentlich eine als Mann verkleidete Frau, eben Niklaus, ist.
Eine andere Eigenart von Goerdens Inszenierung besteht darin, die Figur des Bösen – die einmal Lindorf heisst, dann Coppelius, Doktor Mirakel und Dapertutto – auf den ersten Blick als identisch zu zeigen. Die Regie und die Kostümabteilung (Lydia Kirchleitner) geben sich nicht die geringste Mühe, durch Verkleidungstricks den einen Mann als vier verschiedene Figuren erscheinen zu lassen. Wir sind doch nicht blöd!
Goerden, der in Basel schon Alban Bergs «Wozzeck» und Jules Massenets «Manon» gefällig-modern inszeniert hat, bleibt seinem Prinzip treu, durch überraschende modernistische Schauplätze (Bühne: Silvia Merlo, Ulf Stengl) die Aufmerksamkeit der Opern-Habitués zu erregen, die immer schon wissen, wo der Hase läuft. Lutters Weinkeller im ersten Akt gleicht dem Werkhof einer Vorstadt mit einem Abfallcontainer, dem etliche Kleidungsstücke und Requisiten entnommen werden. Zu Hoffmanns Lied über «Klein Zack», zu dem ihn seine Trinkbrüder ermuntern, führt seine Muse gar ein Kasperlitheater auf dem Rand des Müllbehälters auf. Ebenso hübsch wie überflüssig
Krächzen und Komik
Dann reisst Hoffmann einen Vorhang herunter, und was kommt zum Vorschein? Das physikalische Kabinett des Doktor Spalanzani, der im Rollstuhl auf der Bühne herumkurvt (ein Basler Comeback: Andreas Jäggi), während seine Tochter Olympia (mit betörend hellen Koloraturen und präzisen Spitzentönen: Agata Wilewska) als pummeliges Brillen-Dirndl auf einem Karussellpferd gezeichnet ist. Viel zur komischen Wirkung trägt der übereifrige Diener bei, dem Karl-Heinz Brandt in mehreren Rollen seinen krächzenden Tenor und sein komödiantisches Talent leiht.
Der dritte Akt mit der nächsten Liebe Hoffmanns, der zum Tod durch Singen verurteilten Rockröhre Antonia (die herrlich verzierungssichere, pianobezaubernde und bewegungsaktive Maya Boog), spielt an einem Getränkestand irgendwo im Niemandsland. Antonias Vater Crespel (Andrew Murphy) ist ein Geigenbauer, der ebenso wie sein schwerhöriger Diener Franz direkt aus dem Schtetl zu kommen scheint.
Im vierten Akt fliesst kein Wasser durch die Kanäle von Venedig, sondern Champagner aus den Zapfhähnen einer Tankstelle. Die trickreich agierende Giulietta (mit unerhört strahlkräftigem Sopran und viel Spieltemperament: Sunyoung Seo) ist Mitglied einer uniformierten Frauengruppe, die zur «Barcarolle» gemütlich schunkelt und nach der Diamanten-Arie des Kapitäns Dappertutto auf dem Boden herumkriecht, um einen der Steine zu ergattern.
Klischeehafte Einfälle
Dies alles geht nicht ab ohne die Regietheater-üblichen Einfälle, die man auch schon anderswo gesehen hat: das Gruppenfoto mit allen Beteiligten, das Singen in ein nicht aktiviertes Mikrofon, die Marilyn-Monroe-Kopie der Mutter der Sängerin (Rita Ahonen).
So routiniert das alles in Szene gesetzt ist – es täte keine Wirkung ohne die guten bis vorzüglichen Leistungen der drei Hauptfiguren. Solenn’ Lavanant-Linke war in der Premiere eine unerhört höhensichere, stimmschöne und artikulationsklare Muse – und eine Augenweide ist sie obendrein. Simon Bailey als Gast von der Oper Frankfurt am Main war der Bösewicht mit vier Namen, aber immer stabil sitzendem, angemessen mephistophelischem Bassbariton und einem Spielwitz, der bis in die Fingerspitzen reicht.
Die Titelpartie hat man – wie bereits in «Parsifal» und «Lohengrin» und in der Berlioz-Oper «Fausts Verdammnis – dem Schweizer Tenor Rolf Romei anvertraut. Sein Pensum ist fast übermenschlich, aber Romei zeigt sich den konditionellen Anforderungen gewachsen und kann manch schöne Piano-Kantilene wagen, am berührendsten im Duett «C’est une chanson d’amour…» mit Antonia im dritten Akt. Sein Hoffmann, der ein etwas schmales Klangfarbenspektrum, aber viel Dynamik hat, gefällt. Faszinieren ist anders.
Der Basler Theaterchor ist zurecht überregional bekannt und wurde auch schon als «Theaterchor des Jahres» ausgezeichnet. In dieser Produktion behandelt ihn die Regie recht statisch und steckt ihn gern in Arbeitsuniformen, was seinem Gesang keinen Abbruch tut (Chorleitung: Henryk Polus). Das Sinfonieorchester Basel spielte unter der Leitung von Kapellmeister Enrico Delamboye trotz hörbarer Wackler im zweiten Akt engagiert und klangschön. Am Ende gab es beherzten, aber kurzen Applaus für eine runde Ensembleleistung. Auch mit kräftigen Strichen dauert die bilderreiche Oper mit Pause noch dreieinviertel Stunden. Da war auch das Publikum ein wenig erschöpft.