Im emotionalen Möglichkeitsraum

Jürg Huber, Neue Zürcher Zeitung (18.09.2014)

Die Entführung aus dem Serail, 13.09.2014, St. Gallen

Es war einmal eine Zeit, da machte der Orient nicht nur als Kriegsschauplatz Schlagzeilen, sondern galt dem Abendland als Sehnsuchtsort. Scheherazades Geschichten aus Tausendundeiner Nacht haben die Phantasien angeregt und den Westen vom Zauber des Ostens träumen lassen. Von dieser ach so fernen Zeit erzählt die Neuinszenierung von Wolfgang Amadeus Mozarts «Entführung aus dem Serail» am Theater St. Gallen. Michael Kraus hat dafür eine schlichte Bühne mit beweglichen Elementen geschaffen, deren abstrakte Ornamente im nuancenreichen Licht von Andreas Enzler einen hohen ästhetischen Genuss gewähren und eine exotische Traumwelt evozieren.

Dass Johannes Schmid auf dieser Folie klug und ganz aus der Musik heraus inszeniert, macht gleich die Ouvertüre deutlich. Während zu Beginn der Bassa Selim über allem schwebend die übrigen Protagonisten der Oper erwartet, tanzt im mittleren, langsamen Teil, der den Auftritt von Belmonte musikalisch vorwegnimmt, die verstaubte höfische Rokokogesellschaft ein Menuett (Choreografie Jasmin Hauck und Cecilia Wretemark). Koboldhafte Seeräuber der Theatertanzschule St. Gallen kapern im wiederkehrenden schnellen Teil das Schiff und bringen die Europäer in ihre Gewalt. Dies beim frischen Tempo, das Otto Tausk vorgibt und das am Premierenabend mitunter zu Abstimmungsproblemen zwischen Bühne und Graben führte. Mit dem Sinfonieorchester St. Gallen schlägt Tausk einen leichten und hellen Mozart-Ton an, geschmeidig und farblich fein ausdifferenziert, der in den Janitscharenmusiken auch einigen Sog entwickelt.

Wenn nun also Roman Payers edler Belmonte vor Bassa Selims Landhaus steht, umweht ihn die zopfige und formelle Rokokoatmosphäre, die so gar nicht zum Traum des Orients passen will, in dem die Konturen klarer Lebensentwürfe bald verschwimmen. «Wird sie mich noch lieben?» ist seine bange Frage – umso mehr, als er von Pedrillo sogleich neu eingekleidet wird und nicht mehr auf den äusseren höfischen Prunk vertrauen darf. «Bist du es noch?», wird er Konstanze später fragen. Zu Recht, denn in diesem Gefühlslabor, in das Belmonte bald eingemeindet ist, wird einiges experimentiert, werden Formen der Liebe und des Begehrens ausprobiert.

Am forschesten von Alison Trainers draller Blonde. Sie, deren leichtes Lispeln zur Engländerin gut passt, verbindet für sich das Beste beider Welten, wenn sie nach vorangehendem Geplänkel schliesslich mit Osmin im Harem verschwindet. Das hat zwar seine plakativen Seiten, die jedoch nie dominant werden. Indem die Regie mit Witz immer wieder den Singspielcharakter heraushebt, schafft sie die nötige Distanz zur real existierenden Welt und umschifft, auch durch entsprechende Striche in den Dialogen, allfällige politische Untiefen. So fliegen dem Osmin von Levente Páll nicht nur des einnehmenden Basses wegen die Sympathien zu. Wie er bei seinem ersten Auftritt Blondes rote Stilettos liebevoll pflegt, zeigt nicht den Wüstling, sondern einen empfindsamen jungen Mann, dessen Gefühle gewaltig in Aufruhr geraten sind. Und wenn er sich mit dem drahtigen und stimmlich agilen Pedrillo (Nik Kevin Koch) um Blonde balgt, sind es schlicht Konkurrenten, die einander derselben Frau wegen ins Gehege kommen.

Aber auch von Konstanze. Obwohl Jennifer O'Loughlin ihren Kummer in der Arie «Ach ich liebte, war so glücklich!» mit der ganzen Kraft ihres leuchtenden Soprans herzerweichend besingt, ist es nicht nur Selims Grosszügigkeit, die sie berührt. Dass der Ausgang aus diesem Möglichkeitsraum der Gefühle nicht einfach ein Happy End sein kann, macht Selim beim abschliessenden Urteil klar. Eindringlich, mit analytischer Schärfe, gibt der Bassa Selim von Michael Ransburg seiner Verachtung für Belmonte und das eindimensionale Denken seiner Familie Ausdruck. Bei Konstanze indes wässert er noch einmal den Keim des Zweifels über ihren Entscheid zugunsten Belmontes. Doch Glück für Osmin: Die ihm wohlgesinnte Regie gibt ihm weiterhin eine Chance und lässt ihn Blonde und Pedrillo hinterhereilen.