Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (04.11.2014)
Sechs Sänger, dreizehn Instrumentalisten, trotzdem grosses Musiktheater: Das Zürcher Opernhaus zeigt Benjamin Brittens Gruselstück «The Turn of the Screw» in einer beängstigend konsequenten Aufführung.
Der Knabe Miles ist tot, und Brittens Musik lebt: Mit diesen beiden Gewissheiten verlässt man das Opernhaus nach der Premiere des Meisterwerks «The Turn of the Screw» (1954). Ansonsten drehen sich die Fragen im Kopf so unablässig wie zuvor die Drehbühne von Wolfgang Gussmann und so unerbittlich wie die Schraube im Titel des Stücks: Sind Peter Quint und Miss Jessel als reale Gespenster unterwegs? Oder existieren sie nur im Kopf der Gouvernante, die sich da auf dem einsamen Landsitz Bly um zwei Waisen kümmert? Was sehen die Kinder? Und was sind die «bad things», von denen immer wieder die Rede ist?
Britten lässt die Fragen offen, genau wie vor ihm Henry James, dessen Novelle er zur Oper gemacht hat (und wie nach ihm Alejandro Amenábar, dessen Film «The Others» mit Nicole Kidman als Gouvernante ebenfalls auf diesem Stoff beruht). Die Zürcher Inszenierung, die der Opernhaus-Spielleiter Jan Essinger vom während der Proben erkrankten Regisseur Willy Decker übernommen hat, suggeriert zwar eine Interpretation: Jedenfalls würgt die Gouvernante den Knaben ziemlich heftig, wenn sie ihn in den letzten Takten der Oper und seines Lebens dazu bringen will, endlich seine Abhängigkeit von Quint zu gestehen. Aber es bleibt dennoch genügend Raum zum Rätseln über das Wesen von Gespenstern und Gouvernanten.
Musikalische Schraube
Und für die Musik: Nur gerade dreizehn Instrumentalisten der Philharmonia Zürich sitzen vor dem Dirigenten Constantin Trinks im Orchestergraben, «The Turn of the Screw» ist eigentlich eine Kammeroper – aber eine, die auch einen grossen Saal zum Schaudern bringt.
Denn die Schraube, die sich da zudreht, ist vor allem eine musikalische. Man kann ihre Windungen analytisch nachvollziehen im Tonartenplan des Stücks, in der Verarbeitung des Materials. Aber vor allem spürt man sie in der präzisen, sinnlichen, zwischendrin auch verblüffend wuchtigen Interpretation der Miniatur-Philharmonia: Ein kleiner Dreh genügt, und eine harmlose Musik erhält einen sinistren Beiklang; eine liebliche Oboenmelodie schnürt einem die Luft ab; ein Kinderlied verliert seine Unschuld. Und wenn sich ein Unisono verschiebt, verschwimmt auch die Vorstellung dessen, was real ist.
Das ist weit raffinierter als die Schockeffekte, die Britten durchaus auch bedient (dass er ein guter Filmmusiker geworden wäre, weiss man spätestens seit Wes Andersons «Moonrise Kingdom»). Und weit persönlicher: etwa wenn die Pianistin für die Gespensterszenen zur Celesta wechselt. Natürlich, der glockenspielartige Klang passt zur Sphäre des Unheimlichen, und er erweitert auch ganz pragmatisch die Palette der Farben, die sich mit dreizehn Musikern mischen lassen; aber zugleich verweist er auf andere Britten-Werke, in denen die Celesta dem Thema Homosexualität zugeordnet ist. Mit den «Anderen» sind hier zweifellos nicht nur die Geister gemeint, und auch bezüglich der «bad things» kann man zumindest Vermutungen anstellen.
Dem Publikum der venezianischen Uraufführung dürfte das klar gewesen sein, zumal Brittens Lebenspartner Peter Pears den Quint sang. Im Zürcher Opernhaus übernimmt nun der Tenor Pavol Breslik die Partie, und obwohl die englischen Worte zuweilen ein wenig schräg in seinem Mund liegen: Die weichen, weit ausschwingenden Linien, die Britten für Pears geschrieben hat, liegen ihm. Quint ist nicht nur böse bei Breslik, auch nicht nur gespenstisch. Zwar ist seine Stirnwunde ein Meisterwerk der Maske, und seine Mimik ist an Horrorfilmen geschult – aber er strahlt eine vokale Wärme aus, die nicht nur den Knaben Miles erreicht.
Auch die Gouvernante spürt sie, und sie will nichts wissen davon. Layla Claire gibt sie als Kreuzung zwischen Nicole Kidman und Blaustrumpf: eine hübsche, hysterische junge Frau, die sich die Liebe zu den Waisenkindern zum Programm gemacht hat, während sie sich nach einer ganz anderen Liebe sehnt (dass ihre Emotionen gegenüber dem Knaben Miles manchmal entgleisen, deutet Regisseur Essinger mehrfach an). Hübsch und ein wenig hysterisch ist auch der Sopran, mit dem Claire die Gouvernante singen lässt, immer leicht über der Spur, kaum geerdet vom Orchester, jederzeit in Gefahr, ganz abzuheben. Die Vehemenz, mit der sie die Kinder vor den bösen Geistern schützen will, bekommt da ihrerseits etwas Gruseliges – was Britten zweifellos beabsichtigt hatte.
Hell heisst nicht heiter
Wie sicher er im Umgang mit Zwischentönen war, zeigt sich auch bei den Kinderpartien. Dank gezielter orchestraler Unterstützung gibt die 14-jährige Emma Warner eine Flora, die mit anderer Perücke ein würdiges Mitglied der Addams Family wäre; und selbst die noch sehr kindliche Stimme des 13-jährigen James Dillon, der den erkrankten Tom Deazley ersetzte, erhält eine unheimliche Färbung.
Hell ist nicht gleich heiter, das gilt auch für die Bühne. Weiss sind die Wände, die Wolfgang Gussmann zu zwei durchlässigen, nur durch Susana Mendozas Kostüme in den 50er-Jahren verorteten Räumen zusammengefügt hat; weiss sind auch der Flügel, das Sofa, die Badewanne. Aber es ist dennoch ein düsterer Ort, umgeben vom Dunkel, aus dem die Geister auftauchen und in dem man diese Geister auch vermutet, wenn sie gar nicht da sind (selbst als Zuschauerin wird man mit der Zeit paranoid).
Ganz schwarz und entsprechend eindimensional ist da einzig die Wasserleiche Miss Jessel (Giselle Allen). Die Haushälterin Mrs. Grose (Hedwig Fassbender) dagegen trägt vielsagendes Grau – und geht irgendwann, mit Flora an der Hand. Es ist der einzige Ausweg aus dieser Geschichte, oder vielleicht ist es auch keiner. Die «Anderen» sind da, ob wir sie nun sehen oder nicht. Es reicht, wenn wir uns vor ihnen fürchten.