Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (04.11.2014)
Mit Benjamin Brittens «Turn of the Screw» zeigt Zürich ein geheimnisvolles Hauptwerk des 20. Jahrhunderts
Vergessen Sie Verdis Hexen, Wagners mystische Erscheinungen oder Mozarts steinernen Gast! Alles Kinderzeugs gegen die dunklen Figuren, denen der englische Komponist Benjamin Britten (1913–1979) im Jahr 1954 in seiner grandiosen Oper «The Turn of the Screw» («Die Drehung der Schraube») Töne geschenkt hat. Britten, losgelöst von den Dogmen der Avantgarde, verleugnete die Tonalität nicht und verstand es wie kein Zweiter seiner Zeit, modern und gesanglich zu schreiben. Gerade mal 13 Instrumente braucht er im Orchestergraben, um seinen mysteriösen Charakteren nachzufühlen. Erstaunlich: Selbst alteingesessene Premieren-Abonnenten gestanden am Sonntag im Opernhaus Zürich ein, in ihrem langen Opernleben noch nie einen Ton davon gehört zu haben. Dabei fängt alles ganz einfach nach Schema F eines B-Movies-an – wie so manche grosse Oper...
Eine junge schöne Frau wird von einem reichen attraktiven Mann dazu gebracht, in einem abgelegenen Haus die Gouvernante des 12-jährigen Miles und der wenig älteren Flora zu werden. Allerdings mit verhängnisvoller Auflage: Der Vormund will kein Wort davon hören, was dort geschieht. Kaum angekommen, beginnt sich die Unglücksschraube zu drehen, nach 16 Szenen ist der Waisenknabe Miles tot. Nichts konnte den dunklen Sog aufhalten. Lauter Fragen stehen in der dunstigen Luft: Warum wird der Knabe von der Schule verwiesen? Warum sagt der nette Junge dauernd, dass er schlecht sei? Sind die beiden ehemaligen (verstorbenen!) Hausangestellten, die da ums Anwesen schleichen, tatsächlich Geister? Was trieb Diener Quint einst mit dem Jungen? Ist die neue Erzieherin gar an allem schuld? Ist dieses Spiel Realität, Traum oder Wahn?
Sind das alles sündige Engel?
Fragen über Fragen, die einst die Übersetzer von Henry James’ Novelle «Turn of the Screw» bereits im Titel auszudeuten versuchten: «Die Besessenen», «Die Daumenschraube» oder sogar «Die sündigen Engel» hiess das auch verfilmte Buch dann jeweils, die Interpretationsrichtung war so vorgegeben.
Der Komponist Britten hingegen hat es in «The Turn of a Screw» fabelhaft verstanden, die Geheimnisse allein in der Musik brodeln zu lassen. Die Klänge drehen sich wie eine Schraube in den Kopf des Hörers hinein. Doch der Reiz einer Oper ist nun mal die Darstellung. Und hier beginnen die grossen Schwierigkeiten: Kann man die dunkle Vorgeschichte zeigen – oder andeuten? Die homoerotische Pädophilie? Die zwei «Geister»? Miles’ Sterben?
Jan Essinger, der die Inszenierung nach einem Konzept des erkrankten Regiemeisters Willy Decker übernommen hat, nimmt den schwierigsten Weg: Der junge Zürcher Opernspielleiter erzählt nüchtern, was im Landhaus vorgeht – zeigt die zwei lebenden Toten als Zombies, Quint mit blutender Wunde am Kopf. Das ist etwas gar viel Halloween-Grusel. Aber losgelöst davon folgen wir dem Geschehen gespannt, sehen durchaus, dass der nette Junge dunkle Seiten hat, erkennen, dass hinter Quints Sehnen eine verbotene Lust lauert.
Lauter Fragen, keine Antworten
Es ist mutig von Esslinger, gerade dieser schwierigen Vorlage so sehr zu vertrauen, sie so schlicht zu erzählen. Aber das Resultat wirkt dann halt auch sehr brav. Diese Regie stellt bloss Fragen, scheut sich aber, Antworten zu geben. Die sanfte Ästhetik der in die 1950er-Jahre versetzten Handlung lullt den schwarzen Schauer ein. Dass sich die geschickt einen klinisch sauberen Wohnraum andeutende Bühne von Wolfgang Gussmann pausenlos dreht, ist nicht mehr als eine überdeutliche Fussnote.
Immerhin: Der Applaus war für einmal einstimmig, was durchaus der sanften Regiehand zu verdanken ist. Aber es lag vielleicht auch am famosen Sängerensemble, allen voran an der Kanadierin Layla Claire als Gouvernante. Sie scheint alles Leid und die Zweifel in ihren Tönen zusammenzuziehen – und auszudrücken: In dieser kalten britischen Welt wärmt ihre Stimme geradezu. Endlich wieder einmal in einer passenden Rolle findet sich Pavol Breslik, eines der talentiertesten Ensemble-Mitglieder des Zürcher Hauses: Der Tenor singt nicht nur den Prolog überaus exakt, sondern gibt dem Geist Quint ein kühlen, durchdringenden Ton, ganz in der Tradition der britischen Tenöre. Ein Wermutstropfen bleibt, und das ist, pardon, der 13-jährige James Dillon als Darsteller von Miles.
Der junge deutsche Dirigent Constantin Trinks verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie die Regie: Er lässt die Philharmonia-Zürich-Solisten hochsauber und intelligent spielen – aber frei von Schatten: Warum zuspitzen, wenn man doch sowieso auf Messers Schneide spaziert?, scheinen sich beide zu fragen. Und unsere einfache Antwort darauf wäre: Weil eine so abgründige Oper nicht brav sein darf.