Oliver Meier, Berner Zeitung (30.09.2014)
Gewagt, gewonnen: Konzert Theater Bern holt Glucks «Armide» aus der Versenkung. Eine Expedition ins Niemandsland zwischen Barock und Klassik – voller Charme und Verve, aber auch voller Melancholie.
Wie verrückt muss man sein, um diese Oper zum Saisonstart auf den Spielplan zu setzen? Ja – «Armide» von Christoph Willibald Gluck (1714–1787) war mal ein Renner, in Frankreich. Aber lang ists her. Überhaupt: Gluck. Selbst im Jubiläumsjahr 2014 bleibt es still um den Komponisten, der mal als Operngenie galt, gefeiert und gefürchtet. Als Bühnenpraktiker ist Gluck längst abgeschrieben. «Nur Masochisten unterziehen sich freiwillig der Einstudierung von Gluck-Opern», schrieb jüngst die «Welt». Und ja: Wann hat das Berner Opernpublikum zuletzt ein Wagnis goutiert?
Ungeteilter Applaus
Doch höre da: Am Ende der Premiere, nach einem emotionalen Steigerungslauf von zweieinhalb Stunden, gibts im Berner Stadttheater grossen, ungeteilten Applaus, selbst für die Regie. Und mittendrin: die weiss gewandete Armide von Miriam Clark. Vor zwei Jahren eröffnete sie als Beethovens Leonore die Saison, letztes Jahr gab sie eine Traviata ohne Pathos und Blendwerk. Jetzt ist sie zurück. Dunkler, zugleich noch glühender und facettenreicher wirkt ihr Sopran. Clark zeigt das Schicksal der Zauberprinzessin Armide, wie es der Librettist Quinault im 17. Jahrhundert in Verse bannte: Um Jerusalem zu retten, verführt sie die «Kreuzritter», verdreht ihnen den Kopf. Auch Renaud, den herrlichsten von allen, benebelt sie, lockt ihn ins dämonische Paradies. Doch dann verliebt sie sich in ihn, und als er sie verlässt, wird sie zur rachsüchtigen Wüterin.
Clarks Armide ist eine Melancholikerin. Unnahbar und kontrolliert wirkt sie lange, bis gegen Ende des zweiten Akts. Dann beginnt ihr Stolz zu bröckeln. Zunehmend gebannt hört man, wie Clark das Seelendrama gestaltet, wie sie Wut, Scham, Verzagtheit, das Zerbrochene auch in Töne fasst. Manchmal führt sie die Stimme instrumental, dann verschmilzt sie mit der begleitenden Oboe, manchmal attackiert sie die Spitzentöne, dann wieder drückt sie die Stimme ins Fahle und chromatisch Herbe. Zugleich nimmt sie sich manche Freiheit, nicht nur in den Verzierungen.
Venzagos Mission
Es ist dieselbe Freiheit, für die auch Mario Venzago am Pult einsteht. Zum dritten Mal eröffnet der Chefdirigent des Berner Symphonieorchester die Opernsaison, und wieder hat er eine Mission: Gluck vom Klischee der gediegenen Langeweile zu befreien. Es ist eine Expedition ins musikhistorische Niemandsland. Und stilistisch geht die Berner Produktion einen anderen Weg als die Referenzeinspielung von Marc Minkowski (1999). Venzago denkt Glucks Musik nicht vom Barock her, sondern in ein offenes Feld hinein, das Mozart eroberte – mit einem Seelenrealismus, der sich von der barocken Affektkunst emanzipierte. Und Mozart-Momente gibt es einige: Die Arie «Secondez mes désirs» gehört dazu, ebenso das Liebesduett von Armide und Renaud im letzten Akt, in dem Mozarts «Così fan tutte» anklingt. Die Freizügigkeit, der experimentelle Geist von Venzagos Interpretation ist deutlich spürbar. Manches spitzt er dramatisch zu, die Pauken rumpeln gewaltig – auch an unpassenden Stellen. Noch öfter aber nimmt er das Orchester ganz zurück. Noch im ersten Akt greift manches ungenügend ineinander, dann aber steigern sich Dirigent und Orchester. Elastisch und schmiegsam wirkt Glucks Musik. Und was der Klangkörper – besetzt mit Harfe und alten Blechblasinstrumenten – an Farben hervorzaubert, lässt aufhorchen. Der Gesamteindruck wird gerundet durch ein Ensemble, das bis in die Nebenrollen überzeugt, mal abgesehen von der Textverständlichkeit. Claude Eichenberger etwa ist als Gestalt gewordener Hass von raumfüllender Präsenz, der Chor agiert kraftvoll-präzis, und mit Andries Cloete ist auch Renaud bestens besetzt.
Unverkrampfte Regiearbeit
Und die Inszenierung? Sie stört nicht – keine Selbstverständlichkeit. Natürlich, es gibt dankbarere Stücke als diese «Armide», die in vielem noch dem Barock verhaftet bleibt. Die Personenführung wirkt bisweilen statisch, und allzu tief schürft die Inszenierung von Anna-Sophie Mahler nicht. Doch sie wirkt gradlinig wie das Libretto, und sie übersetzt die uralte Geschichte unverkrampft in ein Heute, das Assoziationen zulässt – von den arabischen Partygästen im Wüstenpalast bis zu den «Kreuzrittern», die wie russische Separatisten daherkommen. Und manche Szene, etwa das Bezirzen der «Kreuzritter», meistert Mahler mit ironischem Charme. Renaud und Armide aber hält sie auf Distanz zueinander. Ein echtes Liebespaar ist das nie. Die Zauderprinzessin verrennt sich im eigenen Zauberwald.