Weg mit dem Staub

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (01.10.2014)

Armide, 28.09.2014, Bern

Mario Venzago begeistert in Bern mit Christoph Willibald Glucks «Armide» und einer grossartigen Miriam Clark in der Titelrolle

Runde Geburtstage von Komponisten stellen häufig eine Pflichtübung dar. Manchmal dienen sie aber dazu, einen in Vergessenheit geratenen Komponisten für die Gegenwart neu zu entdecken. Bei dem 1714 in der Oberpfalz geborenen Christoph Willibald Gluck ist bestimmt Letzteres der Fall. Zumindest gilt das für seine Oper «Armide», die am Stadttheater Bern eine Neuproduktion erlebt hat. Das 1777 für Paris geschriebene Werk hielt sich dort bis 1837 in den Spielplänen, und noch der junge Hector Berlioz schwärmte in höchsten Tönen von «Armide». Auch Richard Wagner war bekanntlich ein begeisterter Anhänger Glucks.

Heutzutage gelten Glucks Opern als langweilig und verstaubt. Ein paradoxer Zustand, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Komponist mit seinen Pariser Reformopern, zu denen auch «Armide» gehört, gerade das Umgekehrte bezweckte, nämlich die erstarrte französische Tragédie lyrique zu neuem Leben zu erwecken. In Bern ist die zündende Idee für die Neuproduktion von Mario Venzago, dem Chefdirigenten des Berner Symphonieorchesters, ausgegangen. Nachdem er bei «Musik Theater Bern» 2012 eine eigenwillige Fassung von Beethovens «Fidelio» und 2013 Webers «Freyschütz» mit Rezitativen von Berlioz herausgebracht hat, ist nun Glucks «Armide» bereits sein drittes aufsehenerregendes Projekt.

Das Stück spielt in der Zeit der Kreuzfahrer. Der Librettist Philippe Quinault hat sich dabei von Torquato Tassos «Gerusalemme liberata» inspirieren lassen. Im Zentrum steht die sarazenische Prinzessin und Zauberin Armide, die dank ihren übernatürlichen Kräften jeden feindlichen Ritter in ihren Bann zieht. Nur beim Kreuzfahrer Renaud versagt ihre Kraft: Zwar erliegt dieser ihrer Zauberei, doch auch Armide selber verliebt sich, womit das Unheil seinen Lauf nimmt. Mit der Kreuzfahrerthematik kann die Regisseurin Anna-Sophie Mahler nichts anfangen. Dabei ergäbe dieser Konflikt zwischen Christen und Muslimen, der sich zudem im syrischen Damaskus abspielt, diesbezüglich reichlich Zündstoff.

Vielmehr deutet sie das Stück sehr eigenwillig als Auseinandersetzung zwischen domestizierter Zivilisation und ursprünglicher Natur. Armide ist die beherrschte Zivilisierte, der die unterdrückten Gefühle einen Streich spielen. Und Renaud erscheint als der Naturbursche, der, um Armides Liebe zu gewinnen, sich beinahe in Anzug und Krawatte stecken lässt. Die Drehbühne von Duri Bischoff verdeutlicht diese Zweiteilung, indem sie auf der einen Seite den Repräsentationsraum einer luxuriösen Villa, auf der Rückseite eine Kakteenlandschaft zeigt. Nic Tillein stattet Armides Hofleute leicht ironisch als schickes Partyvolk aus, während Renaud als ganz unmilitärischer Naturbursche daherkommt.

Die Stärke der Berner Neuproduktion liegt nicht in der Inszenierung, sondern in der Gestaltung der Titelrolle und der Musik. Die Sopranistin Miriam Clark, die in der Berner «Fidelio»-Inszenierung Leonore verkörpert hat, legt ein hinreissendes Rollendebüt als Armide dar. Mit ihrer mächtigen, dunklen Stimme und ihrem emotionalen Einsatz, der die ganze Zerrissenheit zwischen Kalkül und Hingabe zeigt, leistet sie Grossartiges. Nicht von gleicher Statur ist der Renaud von Andries Cloete, dessen Tenor wenig Verführungskraft hat.

Weil der Dirigent Miriam Clark unbedingt in der Titelrolle haben wollte, hat er sogar einige ihrer Arien nach unten transponiert. Auch sonst hat Mario Venzago einige Eingriffe in die Partitur unternommen. Er lässt zwei Posaunen und zwei Klarinetten mitspielen oder verteilt den Continuo-Part auf Cembalo, Harfe und E-Piano. Mit den Naturhörnern und der Traversflöte erreicht er einen sehr farbigen Klang. Vor allem aber hat das musikalische Geschehen Tempo und bleibt ständig im Fluss. Damit realisiert der Dirigent mit seinem Berner Symphonieorchester genau das, was Gluck mit dem Aufbrechen der starren Trennung von Rezitativ und Arie zugunsten einer «am Ball bleibenden» Musik beabsichtigt hat. Und schliesslich verfügt Venzago über ein Charisma, um das ihn wohl viele Kollegen beneiden.