«Carmen»: Von lebhaft zu leblos

Rolf App, St. Galler Tagblatt (20.10.2014)

Carmen, 18.10.2014, St. Gallen

Nicola Berloffa inszeniert am Theater St. Gallen Georges Bizets Oper «Carmen» als düsteres Drama. Das vermag nicht immer zu überzeugen. Gemischt fällt auch die sängerische Bilanz aus.

Georges Bizets «Carmen» gehört zu den gar nicht so seltenen Fällen in der Musikgeschichte, bei denen man sich fragen muss, wie sich der Komponist sein eigenes Werk vorgestellt hat. Es gibt Bizets handschriftliche Partitur, es gibt eine Partitur, in welche die vielen Änderungen während der Einstudierung an der Pariser Opéra-Comique eingetragen sind. Es gibt eine Fassung mit gesprochenen Zwischentexten, und es gibt eine Fassung mit Rezitativen, erarbeitet von Bizets Freund Ernest Guiraud für jene Wiener Aufführung, die 1875 den Siegeszug einleitete.

Ein kluger Schachzug

Es ist diese Fassung, auf die der Dirigent Modestas Pitrėnas für jene Inszenierung zurückgreift, die am Samstagabend im Theater St. Gallen Premiere hatte. Mit Alex Penda als Carmen, Ladislav Elgr als Don José, Aris Argiris als Escamillo, Cristina Pasaroiu als Micaëla.

Die Rezitative sind kürzer als die gesprochenen Texte, vor allem aber führen sie den musikalischen Bogen fort und unterbrechen nicht. Das war ein kluger Schachzug, wie überhaupt das Sinfonieorchester St. Gallen eine sehr überzeugende Leistung bietet. Es bringt das Temperamentvoll-Heftige wie das Zartgewobene in Bizets an Farben enorm reicher Oper gut zur Geltung.

Es wird immer düsterer

Allerdings steht das Geschehen auf der Bühne dazu in einem im Lauf des Abends mehr und mehr wachsenden Kontrast. Der Bühnenbildner Rifail Ajdarpasic siedelt den ersten Akt in einer Art Tenn an, das im zweiten Akt zur Schenke mutiert. Die Lichtregie von Marco Giusti erzeugt ein eher schattiges Ambiente, nach der Pause, im dritten Akt wird das Ganze nachgerade düster. Dann ragen Baumstümpfe von oben in den Bühnenraum, mit Wurzeln, die in der Luft hängen. Viel Schwarz prägt auch die Kostüme von Ariane Isabell Unfried.

Trotz dem übergrossen Hang zum Schwarz, aus dem nur gerade Micaëla mit ihrem roten Kostüm ausbricht, beginnt diese «Carmen» farbig und lebhaft. Micaëla ist auf der Suche nach José, sie wird bedrängt von den Dragonern, die auf die Zigarettenarbeiterinnen warten. Und hier vor allem auf eine: Carmen. Wie eine Königin wird sie empfangen, und natürlich interessiert sie sich nur für den einen, der sie so gar nicht beachtet: José.

Überzeugende Szenen

Es zeigt sich in solchen locker und zugleich packend aneinandergefügten Szenenfolgen die Fähigkeit des Regisseurs Nicola Berloffa, Massenszenen zu gestalten. Der Tumult in der Fabrik, der Auftritt Escamillos in der Schenke, auch der Auftritt der Schmuggler Dancaïro (Jordan Shanahan) und Remendado (Riccardo Botta) und ihr Zusammentreffen mit Frasquita (Alison Trainer) und Mercédès (Susanne Gritschneder) werden so zu Höhepunkten. Deren Abschluss bildet im letzten Akt die mit Augenzwinkern als vergilbte Wochenschau an die Wand projizierte Torero-Szene, in der, ein zweites Mal, der Kinderchor die Bühne mit prallem Leben füllen darf.

Schwächen werden sichtbar

Allerdings werden mehr und mehr auch die Schwächen der Regie erkennbar. Je weniger Menschen auf der Bühne stehen, umso eintöniger wird das Ganze, da kann die Musik dann noch so blühen und glühen. Diese wenigen singen dann gern direkt ins Publikum, auch wenn sie, wie Carmen und Don José, einander noch einiges zu sagen haben.

Manches Detail wirkt auch ein wenig künstlich. Oder komisch: Etwa wenn José, bevor er mit der Blumenarie zu seiner verzweifelten Liebeserklärung ansetzt, das von Carmen zuvor zerbrochene Geschirr aufräumt.

Eindringliche Micaëla

Dieser José ist hoffnungslos entbrannt in einer Liebe, die ihn tief verunsichert und am Ende in ein tiefes Loch stürzt. Ladislav Elgr gibt dem schauspielerisch und stimmlich überzeugend Ausdruck. Ausserordentlich eindringlich tritt Cristina Pasaroiu als Micaëla auf, zu Recht wurde sie vom Premierenpublikum mit einem Sonderapplaus bedacht. Auch der Escamillo ist gut besetzt, Aris Argiris spielt ihn prachtvoll männlich und herrlich überheblich.

Von Alex Pendas Carmen allerdings hätte man mehr erwartet. Im ersten Akt noch sehr präsent, tritt sie danach mehr und mehr in den Hintergrund und offenbart auch stimmliche Schwächen, etwa mit übertriebenem Vibrato. So fehlt es dieser Carmen denn doch ein wenig an Kraft und Aura.