Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (21.10.2014)
Georges Bizets Oper «Carmen» im Theater St. Gallen
Die «Carmen»-Neuproduktion im Theater St. Gallen räumt mit den gängigen Rollenklischees gründlich auf. Carmen ist keine Zigeunerin, José kein Soldat, und von Spanien sieht man praktisch nichts.
Jeder Opernbegeisterte kann die Hauptfigur beschreiben: Carmen, das ist jene feurige Zigeunerin aus Spanien, der Inbegriff der Femme fatale, die dem Soldaten José derart den Kopf verdreht, dass dieser seine biedere Micaëla einfach stehenlässt. Das Theater St. Gallen hat nun aber eine Neuproduktion von «Carmen» herausgebracht, die mit solchen Rollenklischees gründlich aufräumt. Der Regisseur Nicola Berloffa befreit die Figuren der beliebten Oper Georges Bizets von der Last der Aufführungstradition und fängt gewissermassen bei null wieder an. Der Dirigent Modestas Pitrénas wiederum verbindet dramatische Spannung und Poesie wirkungsvoll miteinander. Dabei ist für Auge und Ohr eine schlüssige Deutung herausgekommen.
Ausdruck wichtiger als Schönheit
Bei Berloffa kommt Carmen nicht als Zigeunerin daher, sondern als Arbeiterin, als Frau aus der Unterschicht. Sie ist auch nicht von Anfang an die grosse Verführerin, sondern wächst erst allmählich in diese Rolle hinein. Bei ihrer Habanera im ersten Akt wirkt sie geradezu zurückhaltend. In der grossen Szene mit José am Schluss des zweiten Akts zieht sie dann aber alle Register als Verführerin, um dem Soldaten die Rückkehr zur Truppe auszutreiben. Die Bulgarin Alex Penda, welche die Titelrolle an der Premiere singt, besitzt eine Stimme, die nicht auf Hochglanz getrimmt ist. Ausdruck ist ihr wichtiger als Schönheit. Ihr Sopran klingt eigentlich wie ein Mezzo, dazu manchmal rau, ungehobelt, ja ordinär und passt ausgezeichnet zur Rolle der Fabrikarbeiterin.
Der Don José von Ladislav Elgr ist kein Soldat, sondern gewissermassen ein Privatmann, der zwei Frauen liebt und sich nicht entscheiden kann. Diese Zerrissenheit stellt er mit seinem anpassungsfähigen Tenor bestens dar, im vierten Akt zeigte seine Stimme jedoch Ermüdungserscheinungen. Die gelungenste Neudeutung ist jene der Micaëla. Sie erscheint nicht als Unschuld vom Land, sondern als echte Alternative zu Carmen. Bei ihrem ersten Auftritt trägt Micaëla ein knallrotes Kleid und schlägt die Annäherungsversuche der Soldaten nur halbherzig zurück. Cristina Pasaroius leichter Sopran verleiht der Rolle eine gewinnende Ausstrahlung. Ganz besonders punktet sie bei ihrer herzerweichenden Arie im dritten Akt, mit der sie José zurückerobern will. Escamillo schliesslich, die vierte Hauptrolle, erscheint weniger als Stierkämpfer denn als narzisstischer Schönling aus der Oberschicht. Der Bariton Aris Argiris gibt die Rolle etwas eindimensional, so dass man nicht recht begreift, weshalb Carmen ausgerechnet ihm verfällt.
Vermeidung von Klischees ist auch bei Bühne und Kostümen angesagt. Rifail Ajdarpasic lässt auf der Bühne fast alles Spanische weg. Der am Schluss unvermeidliche Stierkampf wird als schäbiger Schwarz-Weiss-Film gezeigt. Durch verschiedene Holzkonstruktionen, besonders durch die allgegenwärtigen Jalousieläden, wird eine sommerliche, mediterrane Welt geschaffen. Dazu lässt Marco Giusti das Licht stets steil von oben einfallen, als würde die Sonne unbarmherzig brennen. Ariane Isabell Unfried steckt die Figuren in unauffällige Kleidungen, bei denen Schwarz, Weiss und Beige dominieren. Der Verzicht auf alles Folkloristische bei Bühnenbild und Kostümen lenkt den Blick des Betrachters auf das Kerngeschehen, nämlich die Interaktionen der Protagonisten. Wenn José am Schluss Carmen ersticht, sind sie alleine auf der Bühne, während der Trubel des Stierkampfs unsichtbar bleibt.
Fesselndes instrumentales Geschehen
Der Chor des Theaters St. Gallen und der Opernchor St. Gallen realisieren die verschiedenen Rollen als Soldaten, Arbeiterinnen, Schmuggler und Bürger mit Bravour. Der Kinderchor, der im ersten Akt die Wachablösung der Soldaten parodiert, bringt eine der wenigen komischen Elemente in das tragische Geschehen. Modestas Pitrénas sorgt sowohl bei Solisten und Chören als auch beim Sinfonieorchester St. Gallen für spannungsgeladene Abläufe. Farbige Klangmischungen, Abwechslung zwischen poetischen Ruhemomenten und unerbittlichem Fortschreiten sowie das Ausmessen der ganzen dynamischen Bandbreite sind die Ingredienzien des fesselnden instrumentalen Geschehens.