Ein Held steigt vom Sockel

Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (16.01.2006)

Orlando, 15.01.2006, Zürich

Nach der Durchsicht des Librettos war ich so schlau wie zuvor: Eine reichlich verworrene Geschichte wollte uns das Opernhaus diesmal vorsetzen. Ob die Umsetzung gelingen würde?

In groben Zügen lässt sich die Handlung wie folgt zusammenfassen: Orlando (der fränkische Ritter Roland aus der Sage) verliert der Liebe wegen den Verstand, denn seine ihm versprochene Geliebte (Angelica) liebt einen anderen (Medoro). Dieser wiederum schäkert ungehemmt mit der Schäferin Dorinda, obwohl er Angelica liebt. Ein „Zauberer“ (Zoroastro = Zarathustra = Sarastro (?)) will Orlando kurieren, damit er wieder der allseits geschätzte Kriegsheld wird, und schafft dies auch. Am Ende sind – wie es die Opera seria verlangt – alle „glücklich“. Diese Begebenheit wird von G.F. Händel in fast 3 Stunden magistral vertont. Ob man sich nicht die eine oder andere Wiederholung hätte ersparen können, bleibe dahin gestellt. Die Musik Händels weist aber zweifellos wunderschöne Passagen auf, lässt die Protagonisten ihre Koloraturfähigkeiten ausschöpfen und vermag zu packen. Sie lässt bereits Mozart erahnen, hat aber auch für Barock eher ungewöhnliche Töne (z.B. in Orlandos „Wahnsinnsszene“). Das Orchester „La Scintilla“ unter der Leitung von William Christie kann diese Musik bestens umsetzen. Mir persönlich fehlt bei Christie immer etwas das „feu sacré“, das z.B. Minkowski zu vermitteln vermag. Christies Deutungen sind mir immer etwas zu gepflegt, zu „geglättet“, aber ansonsten war es eine hervorragende Wiedergabe.

Auch von den Sängerinnen und dem einzigen Sänger her gesehen war der gestrige Abend ein voller Erfolg. Das Ensemble war wunderbar homogen. Marijana Mijanovic begeisterte mich wiederum mit ihrer unglaublichen Tiefe, mit dem satten, warmen Timbre ihrer Stimme (auch wenn sie – verglichen mit ihrer Leistung im „Trionfo“ – etwas an Volumen und an Strahlkraft in der Höhe eingebüsst zu haben scheint). Ausserdem fasziniert mich ihre Bühnenpräsenz. Ihre androgyne Art lässt bisweilen vergessen, dass es sich um eine Frau handelt, die dort auf der Bühne agiert. Schlichtweg umwerfend war die Leistung von Martina Janková in ihrer ersten Begegnung mit dem Barockfach. Sowohl darstellerisch wie auch stimmlich schöpfte sie alles aus, um dem Charakter der Angelica gerecht zu werden. Glockenreine Koloraturketten reihte sie aneinander, auch die dramatischen Ausbrüche vermochte sie packend zu gestalten. Eine tolle Überraschung war auch der Zoroastro von Günther Groissböck, auch er zum ersten Mal im Barockfach zu hören . Virtuos bewältigte er die hohen technischen Anforderungen. Seinem warmen, profunden Bass konnte er eine unglaubliche Leichtigkeit geben, die ich bei einem Sänger, der auch im Verdi- und Wagnerfach tätig ist, nicht erwartet hatte. Christina Clark, die ziemlich kurzfristig für die erkrankte Eva Liebau einspringen musste, war die einzige im vorzüglichen Ensemble, die das Werk bereits gesungen hatte. Sie verfügt über eine eher kleine Stimme, die jedoch perfekt zu dem kleinen Persönchen und der Darstellung der Clorinda passt. Sie zeichnet sich durch Liebreiz und Natürlichkeit aus. Die letzte im Bunde, Katharina Peetz in der Hosenrolle des Medoro, hatte es etwas schwer, gegen die anderen Protagonisten zu bestehen, obwohl sie sich der Aufgabe bestens entledigte. Sie besitzt einen warmen, dunklen Mezzo, der aber bisweilen etwas eindimensional ist.

Jens-Daniel Herzog versetzte die wirre Handlung in die 1920er Jahre und liess sich dabei offensichtlich von Manns „Zauberberg“ inspirieren. Dies ist nicht immer unproblematisch, wenn der Text eingeblendet wird und z.B. kein Schwert zur Hand ist (sondern ein Beil) oder weit und breit keine Nachtigall, kein Lorbeerbaum, auch keine Blumen und die Schäferin eine Krankenschwester ist. Dies stört aber nicht weiter. Die Inszenierung hatte für mich nur zwei Schwächen: Sie war zu links- oder rechtslastig, so dass viele Zuschauer von einem Teil der Bühne nichts sahen. Zweitens störte mich, dass Jens-Daniel Herzog „Liebe“ mit „Sex“ gleichstellt. Körperliche Liebe gehört zweifellos zur Liebe, ist aber meines Erachtens in diesem Kontext nicht die Triebfeder.

Die Vorstellung beginnt mit einem auf dem Vorhang projizierten Einführungstext, den ich von meinem Platz leider nicht vollständig zu entziffern vermochte (und ich sitze noch relativ in der Mitte!). Im Sanatorium erläutert „Dr.“ Zoroastro vor seinen Assistenzärzten und Schwestern (Genien), in welchen Gehirnhälften Orlandos sich Liebe, Angst, Ruhm und Verstand befinden (unter dem Titel „Orlando furioso“, welchen Orlando selbst später in „Orlando innamorato“ ändern wird). Formeln werden gebildet, die anschliessend einen anderen Sinn ergeben. Orlando wird mit einem „Burn-out-Syndrom“ ins Sanatorium eingeliefert und trifft dort auf die anderen Protagonisten. Ein geschicktes Hin- und Herschieben der Wände verändert die Aktionsplätze und versinnbildlicht auch die Seelenräume und klaustrophobischen Zustände optisch. Die Ausstattung von Mathis Neidhardt ist extrem ästhetisch, die Personenführung von Herzog hervorragend. Die Inszenierung verfügt über Witz und Ironie und lässt die Oper im Fluge vergehen, was aber auch der Darstellungskunst aller Protagonisten zu verdanken ist. Viel geschieht ja nicht in diesem Stück. Verdankenswerterweise hat es Herzog unterlassen, diese „Leere“ mit billigem Aktionismus auszufüllen. Das, was auf der Bühne geschieht, ist stimmig und sinnvoll. Die „Leere“ lässt der Musik den nötigen Raum, um in sie einzutauchen.

Nach dem etwas abrupten „fine lieto“ steht Orlando plötzlich auf einem Statuen-Podest, dessen Inschrift „Orlando eroe“ lautet. Denn das Experiment des Doktors ist „geglückt“, Orlando ist der Welt wieder als Ruhm-„Maschine“ gegeben, er „funktioniert“ wieder, hat der Liebe für den Militärdienst entsagt. Alle legen Blumen am „Denkmal“ nieder und stimmen in das Finale ein. Doch ist es wirklich das Finale? Die Musik schweigt, Orlando steigt vom Podest herunter, setzt sich auf dessen Kante und schaut verstört in die Welt… (War seine Entscheidung richtig?) Das Publikum ist etwas verwirrt… kommt da noch etwas? – Das Licht geht aus! Der Vorhang fällt!

Augenblicklich setzt frenetischer Applaus ein. Alle Protagonisten inkl. Inszenierungs team werden mit Bravo-Rufen eingedeckt. Das Opernhaus kann wieder mit einer vollauf geglückten Premiere aufwarten!