Sigfried Schibli, Basler Zeitung (01.12.2014)
Calixto Bieito inszeniert, Gabriel Feltz dirigiert Giuseppe Verdis «Otello» am Theater Basel
Keine Sorge, wir wollen hier nicht William Shakespeare am Zeug flicken und Giuseppe Verdi mitsamt seinem klugen Librettisten Arrigo Boito eines Besseren belehren. Dass dieses Werk – zuerst ein Schauspiel, dann eine Oper von Gioacchino Rossini, danach vertont von Giuseppe Verdi – nach seiner tragischen Hauptfigur «Otello» heisst, geht schon in Ordnung. Schliesslich heisst «Faust» auch nicht «Mephistopheles» und «Lohengrin» nicht «Friedrich von Telramund».
Allerdings ist die Präsenz von Otellos Fähnrich und Widersacher Jago schon im Stücktext und dann erst recht in der Basler Inszenierung von Calixto Bieito eine so überragende, dass man ihn für die eigentliche Hauptfigur halten kann. Wenn alles darniederliegt und mit dem Tod ringt, steht Jago – das Böse in Gestalt des schlauen Kalküls – noch in souveräner Gleichgültigkeit auf der Basler Bühne.
Eine tragische Figur ist der Feldherr und Mohr Otello allemal. Als Sieger im Krieg gegen die Türken betritt er das Spielfeld. Als Geschlagener und am Boden Zerstörter wird er es verlassen.
Wobei in der Geschichte dieses Stoffs nicht immer Übereinstimmung darüber herrschte, ob Otello am Ende wirklich stirbt. Bei Rossini gibt es noch ein «lieto fine», ein Happy End. Dort glaubt Otello dem Schwur seiner Frau Desdemona, sie sei ihm treu geblieben – allen teuflischen Einflüsterungen des grimmigen Jago zum Trotz. Bei Boito und Verdi haucht Otello sein Leben aus, nachdem er Desdemona erdrosselt hat, weil sie doch angeblich ein Verhältnis mit dem Hauptmann Cassio hatte.
Biografie eines Taschentuchs
Den Beweis dafür glaubt Otello in Händen zu halten: Das Taschentuch, das Otello einst seiner Desdemona geschenkt hat, das ihr entfallen ist und das sich erstaunlicherweise bei Cassio wieder findet. Ja, diese Oper ist auch die Biografie eines Schnupftuchs, das eine unglaubliche Karriere vom Alltagsgegenstand bis zum magischen Fetisch und juristischen Beweisstück durchmacht. Wenn ein Nastuch jemals Schuld auf sich gezogen hat, dann hier.
Erst in der letzten Szene der Verdi-Oper enthüllt sich das Geheimnis, wie der weisse Lappen als angebliches Corpus Delicti zu Cassio gelangte: durch Jagos intrigant-diabolische Schläue. Als Jagos Frau Emilia (in der Basler Inszenierung: Rita Ahonen) dem Gattinnenmörder Otello diese Zusammenhänge erläutert, ist Desdemona bereits tot, und Otello hat den Zeitpunkt verpasst, sein Unrecht wiedergutzumachen.
Vom Kummer zerstört, bleibt er in der Basler Produktion ganz oben im Gestänge eines riesigen drehbaren Hafenkrans (an dessen Haken auch mal ein Kriegsgefangener gehenkt wird) hängen. Sein Niedergang wird durch einen Aufstieg an die Spitze dargestellt – eine schöne dialektische Symbolik.
Dieser gelbe Kran – vermutlich das grösste Objekt, das jemals auf der Bühne des Basler Theaters stand – ist das dominierende Requisit auf der von Susanne Gschwender leer geräumten Einheitsbühne. Kein Schloss, kein Bett, kein subtiles Kammerspiel. Am Anfang trennt noch eine Mauer aus Stacheldraht die Herrschenden vom Volk, vielleicht Boat People, die während der Sturmszene dem Feldherrn Otello zujubelt. Die Jubelnden sind zugleich Gefangene, ihnen sind buchstäblich die Hände gebunden, der Jubel ist ein erzwungener.
Mit schneidendem «Esultate!» in Cis-Dur fährt Otello in den sich nach Frieden und Wohlstand sehnenden Chor. Und man bewundert ein erstes Mal die stimmliche Kraft und intonatorische Genauigkeit des litauischen Tenors Kristian Benedikt, den das Theater Basel für diese grosse Partie engagiert hat, nachdem er den Otello schon in Modena, Piacenza, Cagliari, Ekaterinburg, Vilnius, Santiago und in der letzten Saison in München gesungen hat. Eine würdige Reihe!
Der von Henryk Polus einstudierte Basler Theaterchor hatte im ersten Akt einige Wackler zu überstehen – offensichtlich war er nicht ganz auf das vom Dirigenten Gabriel Feltz angeschlagene zügige Tempo eingestellt. Danach fand der durch den Extrachor des Theaters verstärkte Vokalkörper zu seiner gewohnten Stabilität.
Die nachfolgende Trinkszene («Brindisi») zeigt in der Sicht von Calixto Bieito die ganze Verkommenheit der venezianischen Führungsclique, die eine wahre Champagner-Orgie mitsamt Szenen roher sexueller Gewalt anrichtet. Das geknechtete Volk bleibt passiv hinter dem Stacheldraht, zum Jubel unter Zwang verdonnert. Jago (der stimmlich und schauspielerisch überragende Bariton Simon Neal) ist ein vulgärer Macho, der Hauptmann Cassio (Markus Nykänen mit ausdrucksvollem Tenor) ein Naivling, der sich von Jago mit Alkohol abfüllen und zutiefst demütigen lässt.
Held mit blutigen Händen
Otello – in dieser Inszenierung kein Schwarzer, aber ein Gezeichneter mit blutigen Händen – gebietet diesem wüsten Treiben mit seiner ganzen Autorität Einhalt. Desdemona begrüsst ihn als Diva im weissen Pelzmantel eher kühl, der Kuss wird erst auf Distanz rein verbal verabreicht, bis sich die beiden dann doch körperlich näherkommen. Sind sich die Liebenden hier schon entfremdet, ist an dem Untreue-Verdacht vielleicht doch etwas dran?
Jagos nihilistisches «Credo» im zweiten Akt – erstaunlich, dass der Atheist Verdi einen Ungläubigen so negativ zeichnete – geht förmlich unter die Haut. In der Traumerzählung des Jago, die den Cassio endgültig dem Verdacht aussetzt und ihn ans Messer liefert, wird Simon Neal noch das Kunststück vollbringen, eine gehörige Portion Lügenhaftigkeit in seine Stimme und seine Mimik zu legen. So falsch kann eine richtig geführte Stimme klingen!
Dem Wahnsinn verfallen
Svetlana Ignatovich ist eine begeisternde Desdemona – stimmlich makellos präsent und szenisch eine einnehmende Erscheinung. Gegenüber früheren Rollen hat sie noch an Kraft in der Tiefe gewonnen, und beim Schlussapplaus erhielt sie denn auch neben Simon Neal den grössten Applaus.
Calixto Bieito zeichnet die Desdemona indes nicht allein als reine, unschuldige Braut, sondern auch als überforderte Frauenfigur – sie ist den permanenten erotischen Avancen der Männer nicht gewachsen und wird sich nach der Vergewaltigung durch Otello willenlos dem Jago hingeben. Sie ist dann genau das, was Otello ihr vorwirft: eine Hure. Danach geistert sie wie eine Schlafwandlerin über die Bühne. Ihr Ersuchen um Hilfe bleibt unbeantwortet. Wenn sie im vierten Akt vom Kran herunter ihr Lied vom Weidenstrauch singt, bangt man: Hoffentlich fällt sie nicht in ihrem Wahn runter!
Verdis «Otello» ist in gewissem Sinn eine moderne Oper. Ähnlich wie die Stücke von Giacomo Puccini beginnt sie ohne eigentliche Ouvertüre, ein paar stürmische Takte Orchestermusik genügen, und wir sind mittendrin. Das Sinfonieorchester Basel hatte am Samstag einen glänzenden Tag, spielte unter Gabriel Feltz kraftvoll und präzis, auch an den exponierten Fanfaren-Stellen im dritten Akt und im Holzbläserensemble zu Beginn des vierten Aktes. Dass sich der Dirigent am Ende vor dem Orchester verneigte, war gewiss nicht nur eine höflich-formelle Geste.
Der Schlussapplaus nach der Premiere am Samstag zeigte das für Bieito-Inszenierungen typische Bild: viel Applaus mit Bravorufen, aber auch viele Buhs. Bevor man darüber urteilt, sollte man diese grobe, plakative, wirkungsvolle Inszenierung gesehen haben.