Auf der Suche nach der Liebesformel

Christian Berzins, Aargauer Zeitung (17.01.2006)

Orlando, 15.01.2006, Zürich

Jens-Daniel Herzog inszeniert Georg Friedrich Händels «Orlando» raffiniert, William Christie fasziniert mit seinem Dirigat und präsentiert ein tolles Ensemble.

So cool und gleichzeitig so sanft kann Oper sein - Wahnsinn! Oh, Vorsicht bei Gebrauch dieses Wortes! Zu viele schlaue Gedanken sind darüber im Programmheft des Opernhauses Zürich zu lesen, zu viel wird in «Orlando» davon gesprochen. Georg Friedrich Händels 1733 komponierte Vertonung einer Geschichte aus Ariosts «Orlando furioso» stellt sich in eine bis in die Gegenwart reichende Rezeption des Stoffes.

Der Kriegsheld ist vom Liebeswahn gepackt und wird nach vielen Wirren von Zauberer Zoroastro auf die rechte Bahn gebracht - notabene auf die von den Göttern gewünschte Ruhmesbahn. Doch Zauberer, Schäferinnen und Götter aus Maschinen, sie wirken auf den heutigen Bühnen gar fern, und so greift denn Regisseur Jens-Daniel Herzog tief in die Trickkiste, weiss aber fast jede seiner Idee klug auszudeuten und seine Geschichte schnörkelfrei zu erzählen.

Aus der Schäferin macht Herzog standesgemäss eine Hilfspflegerin, aus dem Zauberer einen Gott in Weiss, einen Arzt. Und er verlegt das antike Geschehen in eine Klinik Anfang des 20. Jahrhunderts - das Streben nach Ruhm und Liebe bleibt sich naturgemäss gleich. Mathis Neidhardt hat für das Liebesentzugsexperiment eine raffinierte, todschicke Bühne gebaut: Bald schauen wir in grosse Schlafsäle, bald scheint die Klinik ein Labyrinth zu sein.

Draussen tobt der 1. Weltkrieg. In den Schützengräben wird Orlando gebraucht. Doch dann passiert es eben: Er verliebt sich, seine Gedanken sind wirr. Die Angebetete verliebt sich aber bald in einen anderen, worauf Orlando wütend, bald rasend, ja «wahnsinnig» wird: Der Arzt hat dafür auch prompt ein Gleichung, die nach wilden Wurzelziehungen und mathematischen Kürzungen vereinfacht lautet: «Orlando+Amor=Furor».

Und wahrlich verbreitet Orlando Schrecken und meint, das Liebespaar umgebracht zu haben. Erst als Zoroastro einen Mundschutz anzieht, sich das Skalpell reichen lässt und an Orlando Hand anlegt, kann er geheilt werden. Orlando darf nun wieder Held sein beziehungsweise Held spielen. Schmunzelnd stiehlt sich die Klinikbelegschaft während seiner Inthronisierung davon. Was bleibt dem ordengeschmückten Krieger anderes übrig, als nach den triumphalen Schlusstakten vom Sockel zu steigen? In der Denkerpose verharrt er, bis das Licht ausgeht - und ein grosser Opernabend vorbei ist.

Nach etwas mehr als drei Stunden jubelte das Publikum nicht nur oppositionslos dem Regisseur zu, sondern auch den Sängern. Angeführt wird das vor allem optisch hinreissend harmonierende Ensemble von Marijana Mijanovic (Orlando). Die singuläre Altistin verblüfft einmal mehr mit ihrem ureigenen dunklen Timbre, das jeden Ton zum Erlebnis machen würde, wäre ihre Intonation etwas präziser. Martina Janková (Angelica), Katharina Peetz (Medoro) und Christina Clark (Dorinda) schlagen sich tapfer durch die waghalsigen Arien, die zwei ersten Sängerinnen verstehen sich nicht nur auf ihre wohlgestaltete Ausformung der Phrasen, sondern sind bemüht, Farben und Emotionen in die Worte zu legen. Günther Groissböcks (Zoroastro) so wohlklingender wie wendiger Bass ergänzt diese Stimmen perfekt. Dirigent William Christie führt alles mit ungeheurem Feinsinn zusammen: Sein Dirigat sucht keine Extreme, gefällt sich vielmehr in wohlgeordnet ausgeleuchteter Orchesterfarben. Auf Zoroastros Wandtafel hiesse die Formel wohl: «Vernunft+ Liebe=Opernglück».