Ein Stacheldrahtzaun für Verdis «Otello»

Lisa D. Nolte, Tages-Anzeiger (01.12.2014)

Otello, 29.11.2014, Basel

Die Schiffsschotten gehen hoch und geben den Weg ins Hafenareal frei für Unternehmenschef Otello und seine Vorstandsmitglieder. Vielleicht sind sie auch Politiker. Das scheint austauschbar in Calixto Bieitos Ausgangsszenario von Verdis Oper über den Feldherrn, der seine Hände mit Blut beschmiert für einen Staat, in dem er selbst Fremder ist. Ein dicker Stacheldrahtzaun trennt ihn vom Chor – von der Dritten Welt, die ihrem Knechter huldigt, in der Hoffnung, ebenfalls Aufnahme in sein Reich zu erlangen. Doch mit dem Schampus, der gekühlt in greifbarer Nähe steht, wird sie nur symbolisch übergossen. Und ihr Vorbild Otello, der Mann, der den Sprung nach oben geschafft hat, zerbricht bereits an den Verbrechen, die er dafür begehen musste. Zugleich wird er beim Versuch, die Fäden seiner Macht in Händen zu halten, zum wahllos um sich schlagenden Tyrannen. Seiner Angst, den Ansprüchen der neuen Welt nicht zu genügen, fällt dabei nicht nur Desdemona zum Opfer. Otello selbst erliegt seiner hoffnungslosen Überforderung durch Herzinfarkt.

Mit einem kernigen Tenor stellt Kristian Benedikt diesen Charakter dar. Die Zerrissenheit seiner Figur zeigt er dabei mehr spielerisch als stimmlich. Bewundernswert ergreifend singt Svetlana Ignatovich ihre Desdemona – auch dann noch, wenn Bieito ihr abverlangt, ihre «Salce»-Arie im obersten Gestänge des Lastenkrans hängend zu singen, der inmitten der Bühne prangt. Der Intrigant Jago bleibt in Simon Neals Interpretation sängerisch wie darstellerisch neutral. Wenn auch nicht immer à point koordiniert, so gewinnt Dirigent Gabriel Feltz dem Sinfonieorchester Basel und dem Chor des Theaters Basel doch emotionsgeladene Stimmungsbilder ab. Der Inszenierung hilft er so – neben dem politisierenden Bühnenbild des Hafens, der Tor zur Welt wie unüberwindbare Grenze, Rettungs- wie Ausschaffungsort gleichermassen ist –, ihre psychologische Ebene hervorzuheben.

Wer von Bieitos «Otello» eines der Schockspektakel erwartet, für die der Artist-in-Residence des Theaters Basel berüchtigt ist, wird diesmal enttäuscht. Zwar gibt es Blut und Handgreiflichkeiten, doch das Beengende an dieser Inszenierung bleibt ihre Ansiedelung in dem unwirtlichen Zwischenreich, aus dem es von keiner Seite des Stacheldrahtzauns ein Entkommen zu geben scheint.