Vorne singen, hinten aufräumen

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (09.12.2014)

Die Zauberflöte, 07.12.2014, Zürich

Während Wochen hat der «Tages-Anzeiger» die Produktion der neuen «Zauberflöte» am Zürcher Opernhaus begleitet. Auch die Premiere am Sonntag haben wir für einmal hinter den Kulissen verfolgt – und dabei zwei Inszenierungen gleichzeitig gesehen.

Sonntagabend, 17.30 Uhr. Eineinhalb Stunden bleiben bis zum Beginn der Premiere, das Opernhaus füllt sich allmählich. In den Gängen hört man Sänger, die sich in ihren Garderoben einsingen. Die zweite Dame stärkt sich mit einer Banane, die dritte hat zwar schon die piratenhafte Perücke auf dem Kopf, aber dafür noch rosa Puschen an den Füssen. Regisseurin Tatjana Gürbaca wirbelt durch die Gänge und verteilt Schokolade an alle, die ihr über den Weg laufen. Später wird sie mit Michael Laurenz alias Monostatos noch einmal seinen Monolog üben; er war krank und hat Haupt- und Generalprobe verpasst, darum wird noch bis zur letzten Sekunde gefeilt. Die Leute von der Requisite verteilen derweil Federn auf der Bühne. Und in der Kantine sitzt Hühnertrainer Heini Gugelmann und isst – tatsächlich – ein Spiegelei.

18.30 Uhr. «Noch eine halbe Stunde bis zur Vorstellung», kündigt Katharina Kühnel über Lautsprecher an. Sie sitzt als Inspizientin hinter der Bühne, in einer engen Nische, in die sich auch noch ein Feuerwehrmann und der Drehbühnentechniker zwängen werden. Hier laufen alle Fäden zusammen, respektive hier werden sie gespannt: Kühnel sorgt dafür, dass die Sänger rechtzeitig hinter der Bühne bereitstehen, dass sie im richtigen Moment auf der richtigen Seite ins Blickfeld des Publikums geraten. Sie setzt die Technik und den Chor in Bewegung, eine ganze Reihe von Schächtelchen mit Hustenbonbons steht auf ihrem Pult, und wenn einer der Damen der Schnurrbart abgeht, ruft sie jemanden aus der Maske, der notfalls im Innern des «Zauberflöten»-Hauses den Schaden behebt.

Ein Stahlgestell wird abgeseilt

Neben diversen Monitoren hat sie einen Klavierauszug vor sich, in den sie während der Proben die entscheidenden Vorgänge notiert hat. Wann muss wer gerufen werden? Was muss vorne sichtbar, was hinten abgeräumt werden? Ihre Signale gibt sie per Funk, «aber auch ganz altmodisch per Licht- und Handzeichen». Darum hat sie in einer der ersten Proben auch protestiert, als ihr Pult auf der falschen Seite stand: «Ich muss die Dinge immer aus derselben Perspektive organisieren können, und auch die Sänger müssen wissen, in welche Richtung sie Blickkontakt zu mir haben können.»

19 Uhr. Wir haben uns auf den Schnürboden verzogen, dort ist Platz und Ruhe; in dieser Aufführung kommt nur wenig von oben. Aber als der Vorhang aufgeht, erlebt man von hier aus zwei Inszenierungen gleichzeitig: jene, die das Publikum sieht; und jene in und hinter den Kulissen, die ebenso exakt getimt ist. Während sich das «Zauberflöten»-Haus zur Ouvertüre dreht, sitzt im Innern der Hühnertrainer, der seine Hühner platziert, wieder einfängt, durch eine andere Tür hinausschickt. Und während Mauro Peter Taminos Bildnisarie singt, wird hinten schon der Flügel für die Königin der Nacht (Sen Guo) vorbereitet. Die als Wanzen kostümierten Tänzerinnen und Tänzer kriechen ins Haus, als seien sie tatsächlich Insekten; dabei geht es nur darum, unsichtbar zu bleiben bis zum Auftritt. Und mit einigem Gerumpel, von dem man vorne aber nichts hört, werden hinten allmählich die Äste weggeräumt, die im Reich der Königin der Nacht herumliegen.

20.10 Uhr. Pause – und für die Technik beginnt der anstrengendste Teil des Abends. Denn das «Zauberflöten»-Haus, das im ersten Akt vollkommen durchlässig war, muss im zweiten auf allen Stockwerken bespielt werden können. Darum werden aus dem Schnürboden zwei Stahlgestelle ins Haus abgeseilt. Fünfzehn Bühnentechniker sind dabei im Einsatz, die alles verstreben, verschrauben, einpassen. Auch die Rollläden, die es braucht für den zweiten Akt, werden eingesetzt und getestet. Zwei klemmen, zum ersten Mal. Sie lassen sich auch nicht reparieren bis zum Ende der Pause, die beiden Fenster werden offen bleiben. Und nicht nur Sarastro (Christof Fischesser), der in diesem Werk und dieser Inszenierung sehr viel Wert legt auf Ordnung, wird sich darüber ärgern.

Aber das ändert nichts am Ablauf: Um 20.40 Uhr spielt sich das Orchester wieder ein. Und Sarastros Mannen platzieren sich mit Farbrollern und Gipskesseln auf der Bühne – damit die Renovation des «Zauberflöten»-Hauses mit den ersten Tönen beginnen kann.

«Schnell-schnell-schnell!»

22.10 Uhr. Ende «Zauberflöte»! Der Vorhang senkt sich, der Applaus geht los, und auf der Bühne umarmen sich Sarastro und die Königin der Nacht, Tamino und die Regisseurin, die während der Aufführung im Saal sass. «Halb ohnmächtig» sei sie jeweils vor Aufregung, hatte sie davor gesagt, «vor allem in der Pause weiss man nicht, wohin mit sich: Man kann nicht zu den Sängern, weil man sie nicht nervös machen will. Aber auch nicht ins Foyer, weil man dort ja Kommentare hören könnte.»

Nun, da das Stück vorbei ist, kommt erstmals Hektik auf hinter dem Vorhang. «Schnell-schnell-schnell!», ruft die Regieassistentin, die Protagonisten flitzen weg, der Chor stellt sich auf – Applaus, Verbeugen, Zurücktreten. Man kennt das Spiel, es ist nach jeder Premiere ähnlich. Die Sängerinnen und Sänger treten auf, alle werden beklatscht, am heftigsten Papageno (Ruben Drole), Pamina (Mari Eriksmoen) und die Tölzer Sängerknaben. Auch für den Dirigenten Cornelius Meister und das Ensemble La Scintilla gibt es viel Applaus, während beim Regieteam wie so oft zwei Fraktionen gegeneinander antreten: die Jubler und die Buhrufer. Und auf der Bühne klatschen die Sänger: Doch, es war eine tolle Produktion und eine gute Zeit.

Dann senkt sich der Vorhang zum letzten Mal, ums «Zauberflöten»-Haus werden Tischchen aufgestellt, Beteiligte und Zuschauer drängen zur Premierenfeier. Ein paar Sänger zücken ihre Smartphones für Gruppenbilder. Opern­intendant Andreas Homoki rühmt. Die Brötchen verschwinden.

Und irgendwann ist die Premiere endgültig vorbei. Am Tag danach reist das Regieteam ab, Tatjana Gürbacas nächste Station ist Oslo, «La Traviata». Die Sänger und Musiker dagegen werden sich alle paar Tage für weitere «Zauberflöten» treffen. Bis zum 11. Januar. Und dann wohl wieder in der nächsten Spielzeit.

* * *

«Zauberflöte», multimedial

Seit Ende Oktober haben wir «Zauberflöten»- Proben besucht, mit Sängern oder einer Maskenbildnerin gesprochen und die Arbeit in den Werkstätten verfolgt. Der Premierenbericht schliesst die grosse Reportage ab.

Die Inszenierung

Pointen und Diskurse

Zwei Welten prallen in der neuen Zürcher «Zauberflöte» aufeinander.

Unablässig dreht sich das «Zauberflöten»-Haus während der Ouvertüre. Durch die Fenster blickt man auf das Gestrüpp im Innern, auch davor liegen Äste, und seltsame Gestalten treffen sich hier: Damen mit Schnurrbärten. Papageno mit Zöpfchen und einem Huhn auf dem Arm. Eine Königin mit Pappkrone. Eine Pamina, die erst mit einem ganzkörperbehaarten Monostatos flirtet und dann nach einem Streit von ihm entführt wird. Das ist die Welt der Königin der Nacht, eine Welt, in der es noch keine klaren Grenzen gibt zwischen Mann und Frau, Tier und Mensch, oben und unten.

Diese Grenzen setzt dann Sarastro, der Sonnenpriester. Er und seine Getreuen räumen auf mit Ästen und Federn, das Haus wird vermessen und renoviert, die Türen bekommen Schlösser, die Fenster Rollläden. Wenn sie sich öffnen, sieht man dahinter Paare im Partnerlook beim Teetrinken, wie man sie in irgendeinem Einfamilienhausquartier antreffen könnte. Eine ordentliche Welt. Eine sichere Welt. Eine langweilige Welt.

Tamino fühlt sich sofort wohl hier. Regisseurin Tatjana Gürbaca glaubt ihm sein Heldentum nicht wirklich, schliesslich fällt er in der «Zauberflöte» schon bei seinem ersten Auftritt in Ohnmacht. Verblüffend rasch akzeptiert er Saras­tros Werte – und lässt sich hier ohne weiteres einen Besen in die Hand drücken. Auch er räumt nun auf. Und protestiert nicht, wenn Sarastro jenes Zorro-kostüm ins Feuer wirft, mit dem er sich eben doch ein bisschen heldenhaft geben wollte.

«Das war hart, gell?»

Papageno dagegen hält nichts von all den Regeln, er rennt an gegen die verschlossenen Türen – und wenn er irgendwann sprachlos und unendlich traurig am Plastikgartentisch sitzt, hat das nichts damit zu tun, dass er sich an das Schweigegebot halten würde. Die Welt dieses Sarastro ist einfach zu grausam für einen wie ihn. Gleich danach allerdings sieht man ihn im Video, beim Telefonieren: «Das war hart, gell?»

Immer wieder torpediert Gürbacas Inszenierung die Emotionen, die sie schafft. Und dabei auch allerlei Traditionen: Klar, die Königin der Nacht darf glitzern und funkeln, aber auf Rachetour geht sie mit Axt und Militärmantel. Auch Pamina ist nicht das naive Opfer, das man aus vielen Inszenierungen kennt; energisch sucht sie sich ihren Weg ins Erwachsenenleben, und verzweifelt holt sie die Reste des Zorromantels aus dem Feuer – ihren Retter hatte sie sich wohl anders vorgestellt. Und dann ist da vor allem Monostatos, der Schwarze, der hier ein Haariger ist und in zwei wahnwitzigen, theoriediskursgesättigten Monologen sein Anderssein reflektiert.

Die Texte hat Tatjana Gürbaca geschrieben, auch die übrigen Dialoge hat sie neu formuliert. Sie hat dabei einige Pointen gesetzt, wie es sich gehört für eine «Zauberflöte». Aber gleichzeitig jenes Thema herausgeschält, das ihr unter den Nägeln brennt: der Umgang der Gesellschaft mit den «anderen», mit Monostatos eben oder auch mit Papageno. Auch er sieht ja speziell aus, und vielleicht riecht er etwas streng; aber wie Sarastros Leute zu- und wegschauen, wenn er sich umbringen will – das ist schwer zu ertragen. Und man erinnert sich an das, was die Regisseurin beim Konzeptionsgespräch Ende Oktober gesagt hatte: Mozarts «Zauberflöte» sei ein kleiner Spass; aber gleichzeitig seien alle grossen Menschheitsthemen drin.