Opernglanz ohne Bühnenzauber

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (17.01.2015)

Médée, 15.01.2015, Basel

Die Oper «Médée» von Marc-Antoine Charpentier auf der Grossen Bühne des Theaters

Die Barockoper erlebt seit einigen Jahrzehnten auf unseren Bühnen einen regelrechten Boom. Aber sie lebt in einem Zeitalter getrennter Kulturen. Während man musikalisch auf ein Höchstmass an «Authentizität» bedacht ist – mit Gesangstechniken, Instrumenten und Spielweisen aus der Barockzeit –, kann es szenisch nicht modern genug zu und her gehen. Jüngstes Beispiel für diese ebenso seltsame wie anregende Opern-Schizophrenie ist die Aufführung von Charpentiers musikalischer Tragödie «Médée» am Theater Basel.

Auf der Bühne sitzt das Basler Barockorchester La Cetra, vom Cembalo aus angeführt von seinem Chef Andrea Marcon. Die Musikerinnen und Musiker mit ihren herrlich farbig klingenden Streich-, Blas- und Zupfinstrumenten und dem pulsierenden Schlagwerk stecken in weissen Gewändern, die stilistisch aus dem Barock stammen könnten. Und sie setzen die Vorgaben dieses zur Zeit von König Louis XIV in Paris wirkenden Komponisten mit wissender Meisterschaft um.

Punktgenaue Rhythmen

Die nach französischer Manier punktierten Rhythmen kommen messerscharf hinüber, die Chaconnes und Divertissements haben Farbe und Kraft, die instrumentalen Soli klingen beherzt, und der Basso continuo mit gleich zwei Cembali grundiert das Ganze überaus sinnlich. Dirigent Marcon hält die Tempi unentwegt in Bewegung, lässt keine Kerzenschein-Gemütlichkeit aufkommen. Und hält, wenn er mit seinem Drängen nicht gerade den König Créon (Kreon) in Atemnot bringt, guten Kontakt mit der Bühne.

Szenisch entspricht dem nun rein gar nichts. Die Inszenierung von Nicolas Brieger im Bühnenbild von Raimund Bauer tut alles, um unsere Vorstellung von Barockoper zu (ent-)täuschen. Auf der Bühne steht als Palast-Ersatz ein nüchternes zweistöckiges Gebäude mit Lift, Treppen und einem Untergeschoss, in das sich gelegentlich die Titelfigur Médée verkriechen wird.

Die handelnden Personen tragen moderne Kleidung und treiben es bunt miteinander. Dem König werden die Kleider bis zur Unterhose vom Leib gerissen, und die Priesterin Médée tollt mit ihren Knaben herum, als lebte sie in einer antiautoritären Kommune. Später schleift sie eigenhändig eine Matratze aus dem Keller nach oben, um darauf ihren untreuen Gatten Jason zur körperlichen Liebe zu zwingen. Dieser aber hat längst die Freuden der Liebe mit einer anderen Königstochter, Créuse (Kreusa), kennengelernt. Ihres goldenen Gewands hat sich Médée schon früh entledigt, danach hüpft sie im schulterfreien kleinen Weissen über die Bühne. Das Glitzerkleid wird sie ihrer Rivalin schenken, die davon vergiftet wird, weil das Kleid von Médée verhext ist. Am Ende zerrt die Mutter die von ihr getöteten Knaben auf die Bühne.

Die für die französische Barockoper typischen Ballette werden im Bühnenhintergrund versteckt oder zu Grotesk­tanz-Einlagen verstümmelt. Zumindest szenisch hat der barocke Schönheitssinn, haben Pracht und Poesie an diesem Abend nicht die geringste Chance. Es wird viel Gewalt, Sex und Theaterblut gezeigt in dieser etwas angestrengt modernen Inszenierung aus lauter Versatzstücken des sogenannten Regietheaters, die ein an Calixto Bieito geschultes Premierenpublikum am Donnerstag begeistert feierte.

Attraktive Titelpartie

Zweifellos galt der Premierenjubel mindestens zur Hälfte der musikalischen Umsetzung dieser glücklicherweise etwas gestrafften, aber mit fast drei Stunden Dauer immer noch recht langen Barockoper. Von Anfang an ist die aus Berlin eingeflogene Mezzo­sopranistin und Simon-Rattle-Gattin Mag­da­lena Kozená die beherrschende Figur auf der Bühne.

Sie singt und spielt die Zauberin, die nicht gefeit ist vor Liebesschmerz, mit unerhörtem Spieltemperament und nie erlahmender stimmlicher Ausdauer. Die Exklamationen ihrer vollkommen ausgeglichenen Stimme gehen einem unter die Haut, aber sie bringt auch viel stimmliche Wärme auf wie etwa im Duett mit Jason.

Ihr zunehmendes Irresein im zweiten Teil des Abends bis hin zur Tötung der eigenen Kinder wird von Kozená schonungslos dargestellt. Da geht einem auf, dass es Wahnsinnsarien in der Oper schon lange vor Donizettis «Lucia di Lammermoor» gab. Man darf gespannt sein, wie Solenn’ Lavanant-Linke vom Februar an diese Riesenpartie gestalten wird.

Die eigentliche Wahnsinnsszene in dieser Charpentier-Oper von 1693 aber ist die des Königs Créon im vierten Akt. Luca Tittoto tobt halb nackt über die Bühne und singt, wenn er nicht gerade randalieren muss, mit kernigem, etwas polterndem Bass, der einem solchen Generalissimus entspricht. Die Partie seiner Tochter Créuse lag in der Premiere in den höchst beweglichen Stimmbändern der Sopranistin Meike Hartmann.

Créuse ist die doppelt Umworbene in diesem Stück: Jason verlässt ihretwegen Médée, die Mutter seiner Kinder, aber Créuse ist eigentlich mit König Oronte verlobt, der nicht von ihr ablassen will. Das Abschiedsduett der sterbenden Créuse mit Jason ist fraglos ein musikalischer Höhepunkt der Oper.

Das Basler Besetzungsglück wird durch diese beiden Männerpartien vollkommen gemacht. Anders J. Dahlin ist ein Jason von tenoralem Schneid und Durchschlagskraft, während sein Rivale Oronte bei Robin Adams und seinem klar zeichnenden Bariton bestens aufgehoben ist. Unklar ist nur, weshalb Oronte als Militär und Jason als Zivilist erscheint (Kostüme: Bettina Walter).

Spartheater – nein danke!

Noch im Mai letzten Jahres war es zwischen dem Dirigenten Andrea Marcon und dem Theater Basel anlässlich von Henry Purcells «Indian Queen» zum Dissens gekommen, weil das Theater nicht mit Marcons La-Cetra-Vokal­ensemble, sondern nur mit dem haus­eigenen Theaterchor arbeiten wollte. Es dirigierte dann schliesslich der Studienleiter David Cowan. Diesmal hat sich der kleine Italiener mit dem starken Willen durchgesetzt: Auf der Bühne sangen und spielten die jungen Stimmen von Marcons Vokal­ensemble – einmal arg dünnstimmig (Frauenchor um König Créon im vierten Akt), dann wieder erstaunlich kräftig.

Ein eingekauftes Orchester, ein eingekaufter Chor, lauter Gastsänger auf der Bühne – «Médée» dürfte eine der teuersten Produktionen der zu Ende gehenden Delnon-Ära sein. Zumindest musikalisch aber auch eine der besten.