Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (19.01.2015)
Andrea Marcon warf sich am Theater Basel mit durchschlagendem Erfolg für den Barockkomponisten Marc-Antoine Charpentier und dessen «Médée» in die Bresche. In der Titelrolle war eine sensationelle Magdalena Kozena zu erleben.
Hinter manchem starken Mann steht eine noch stärkere Frau: Jason, der Anführer der Argonauten, der Räuber des Goldenen Vlieses, der Held, der Armeen und Drachen bekämpfte, hatte Medeas Hilfe, die ihre magischen Hände bei diesen Heldentaten im Spiel hatte. Sie machte ihn unverwundbar, sie lähmte den Drachen, sie floh mit Jason, sie tötete ihren Bruder, um die Flucht zu ermöglichen, sie tötete den Usurpator Pelias, der Jasons Thron geraubt hatte.
Und jetzt sitzen sie in Korinth auf Kreons Burg, belagert von feindlichen Heeren, und Jason geht fremd: Er hat sich in die einheimische Prinzessin Glauke (Créuse bei Charpentier) verliebt, und Medea braucht nicht lange, seine Lügen zu durchschauen. Als ihre Verführungskraft, ihre politische Vernunft, ihre Appelle und Tränen nichts mehr helfen, ist ihre Rache fürchterlich: Nicht nur tötet sie Glauke durch ein vergiftetes Kleid und treibt den König Kreon in den Wahnsinn, sogar ihre beiden gemeinsamen Kinder bringt sie um, nur um Jason zu treffen.
Fulminante Magdalena Kozena
Marc-Antoine Charpentier fand für die Seelennöte dieser zwischen Liebe und Rache hin und her gerissenen Frau sehr ausdrucksstarke Musik, und am Theater Basel entdeckte die Sopranistin Magdalena Kozena in Charpentiers Médée eine Opernfigur, die sie als Sängerin wie Schauspielerin fulminant auszufüllen versteht. In allen Lagen – stimmlich wie szenisch – lässt Kozena ihre Figur leiden, verführen, verdammen oder klagen und gibt ihr eine Präsenz, die den Raum förmlich zum Vibrieren bringt.
Zu verdanken hat sie das auch Andrea Marcon, der nicht das geringste an Intensität und klangfarblicher Raffinesse dieser Partitur verschenkt. Dabei hat seine Gangart trotz teils atemberaubender Tempi nichts Getriebenes sondern atmet eine stets natürlich pulsierende Lebendigkeit. Die virtuosen Spieler des Basler Barockorchesters La Cetra präsentieren mit ihren historischen Instrumenten eine klangfarbliche Vielfalt, die sofort gefangen nimmt und in keinem Moment beliebig oder pauschal wird.
Damit steckte Marcon auch die anderen Sänger an, die sich allesamt auszeichnen konnten: Anders J. Dahlin zeigt sich für Jason als ein Haute-Contre mit verführerischem Timbre, Luca Tittoto ist sängerisch wie szenisch ein starker Kreon, Meike Hartmann aus dem Opernstudio singt eine adäquate Créuse, Robin Adams, viele Jahre am Berner Theater, bringt ihren Freier Oronte nicht minder ausdrucksstark auf die Bühne. Alle sind sie emotional aufgepeitscht von Charpentiers Musik und dem dramatischen, literarisch und rhetorisch sehr beeindruckenden Libretto von Thomas Corneille.
Die Bühne von Raimund Bauer konterkariert diese psychischen Abgründe mit einer betont quadratisch-betonkalten, gesichtslos-modernen Architektur: Ein Treppenhaus mit Lift im Palast des korinthischen Königs Kreon. Der Regisseur Nicolas Brieger belebt die verschiedenen Stockwerke virtuos und setzt nicht nur die Chöre und Statisten des Theaters Basel mit fast schon choreografischer Sicherheit in Szene, sondern lässt auch seine Protagonisten in keinem Moment im Stich.
Ein grosser Musiktheaterabend
Die Intensität von Charpentiers Musik erhält so auch szenisch eine bildkräftige Entsprechung, selbst die gewalttätigen Szenen, für die Brieger hier im Gegensatz zu manchen Regie-Kollegen Theaterblut gekonnt einsetzt, erhalten nachhaltige Bildwirkung und eindrückliche Ausdruckskraft, kulminierend im Kindermord, wenn Medea mit den beiden blutüberströmten Kindern aus dem Fahrstuhl tritt.
Aber Brieger hat nicht nur diese grossen Szenen suggestiv in Szene gesetzt, sondern auch andere gut beobachtet. Wie Medea Jason ein letztes Mal zu verführen versucht, etwa, nachdem sie eine Matratze die Treppe hochgeschleppt hat, wie die Kinder mit dem Fahrstuhl spielen, wie magische Kreaturen König Kreon verzaubern und mit Wahnsinn schlagen, aber auch wie Medeas Bewegungen immer eckiger und unnatürlicher werden, je mehr sie das Geflecht aus Verrat um sie herum durchschaut. Ein ganz grosser Musiktheaterabend!