Schlamm statt sieben Schleier

Marianne Mühlemann, Der Bund (19.01.2015)

Salome, 17.01.2015, Bern

Ohne Geheimnis, ohne Souplesse: Konzert Theater Bern versucht sich an Richard Strauss’ «Salome». Doch Ludger Engels psychologische Deutung des Dramas um die judäische Prinzessin will nicht aufgehen.

Ein zwölfminütiger Tanz bildet im Musikdrama «Salome» die Schlüsselstelle. Seinetwegen verliert der Vierfürst Herodes im übertragenen Sinn den Kopf. Und Jochanaan, der Prophet, verliert ihn richtig. Mit diesem Tanz steht oder fällt die Oper «Salome».

Bereits Richard Strauss war sich dessen bewusst. Er komponierte Salomes Schleiertanz, als die Oper bereits fertig war. Auf einem Spaziergang zu dritt habe Gustav Mahler Strauss vor dem Tanz gewarnt. Doch Strauss habe nur gelacht: «Dös krieg i schon». So schreibt Alma, Gustav Mahlers Frau, später in ihren Erinnerungen. Alma Mahler konstatiert, er habe ihn nicht gekriegt. Und ohne weiter darauf einzugehen: «Der Tanz ist das einzig Schwache in dieser Partitur.»

Eine Knacknuss, ein Rätsel

Alma Mahler hätte statt schwach auch schwierig sagen können. Für einen Opernregisseur ist – wie auch die aktuelle Inszenierung von Ludger Engels zeigt – Salomes «Tanz der sieben Schleier» eine Knacknuss.

Als instrumentales Herzstück ist der Tanz ein Fremdkörper in der Partitur, dramaturgisch jedoch eine Schlüsselstelle, die in der Logik der Opernhandlung vor- und rückwärts ausstrahlt. Er bestimmt sogar die Besetzung der Titelrolle mit. Wer will schon eine korpulente Operndiva mit dramatischer Salome-Stimme zwölf Minuten lang erotisch tanzen oder gar einen Striptease hinlegen sehen? Das muss schiefgehen.

Doch weder Strauss’ Partitur noch Oscar Wildes Stückvorlage liefern Angaben, wie der Tanz auszusehen hat. Bei Wilde steht: «Ihre nackten Füsse werden wie weisse Tauben sein.» Oder: «Sie wird auf Blut tanzen.»

Auch die Zuhilfenahme des biblischen Urtextes im Matthäus-Evangelium bringt nicht weiter. So bleibt der Schleiertanz ein Rätsel. Verschiedene Opernregisseure haben das Dilemma unterschiedlich gelöst. Hie und da wurde die Rolle geteilt, sodass anstelle der Sängerin eine professionelle Tänzerin auftrat – wie in einer Inszenierung mit Montserrat Caballé in Barcelona.

Es gab Tänze, für die eine professionelle Choreografin beigezogen wurde – zum Beispiel arbeitete Luc Bondy mit Lucinda Childs. Bei der Jubiläums-Inszenierung 2005 in Dresden verzichtete Peter Mussbach ganz auf das Tanzen. Salomes Tanz wirkte hier wie eine Leerstelle in der Oper.

Trotzige, verzogene Göre

Man mochte es deshalb kaum erwarten. Wie würde Regisseur Ludger Engels mit Salomes Tanz umgehen? Die Antwort ist ernüchternd. Engels weiss mit Salomes Tanz nichts anzufangen – und Salome auch nicht. Die britische Sängerin Allison Oakes verpackt ihre Jugendlichkeit in die absonderliche Attitüde einer trotzigen, verzogenen Göre, die auch mal zuschlägt, wenn ihr etwas nicht passt.

Wieso die Wirkung dieser Kindfrau auf den Stiefvater Herodes (John Uhlenhopp) oder Narraboth (Michael Feyfar) so betörend sein soll, dass der Erste sich vor allen zum Affen macht und der Zweite sich aus Eifersucht erschiesst, begreift man nicht. Zwischen Text, Personenführung und Bild tun sich Scheren auf.

Neonröhren statt Vollmond

Auch sonst ist von Geheimnis, Schauder, Beklemmung keine Spur. Statt eines weissen Vollmonds leuchten Neonröhren. Der heilige Prophet Jochanaan – mit Aris Argiris eine darstellerisch intensive, stimmlich facettenreiche Besetzung – ist nicht in einem düsteren Erdloch gefangen, sondern in einer Glasgondel mit Luftlöchern, die er nach Lust und Laune besteigt oder verlässt.

Wenn die quaderförmige Kabine wie eine Kaaba vom Bühnenhimmel gleitet, ist sie mit einem schwarzen Vorhang verhüllt. Der wird auch gezogen, wenn dahinter das Ungeheuerliche passiert, das Orchester flüsterleise vibriert und Jochanaans Kopf – blubb – auf den Boden fällt.

Dass die Regie in Anbetracht der IS-Morde in Syrien der Versuchung widersteht, die Szenerie blutig auszumalen, ist ihr hoch anzurechnen. Zimperlich darf die Salome-Darstellerin trotzdem nicht sein. In der Schlussszene wartet auf sie ein Schlammbad.

Wenn der weichliche Herodes Salome Prinzessin nennt oder sie mit einem Apfel verführen will, liest man das wie Ironie. Passend zur wachsenden Verzweiflung wechselt der Tetrarch in einen gebrochenen Sprechgesang. Mit expressiver Stimme überzeugt Herodias (Claude Eichenberger) als kokette Despotin, ihr Page (Sophie Rennert) ist als Sklavin mit einer fürsorglichen Beziehung zu Narraboth gezeichnet.

Die Juden und Nazarener, die als Studentengruppe mit Laptop und Zwischenapplaus die Handlung kommentieren, sind romantische Mitläufer, die Genuss und obszönem Gelage nicht abgeneigt sind. Man ahnt nur, was unter dem weissen Schleierzelt passiert. Salome reisst den halbtransparenten Stoff aus der Kulisse, mit der das biedere Innen und Aussen des Palastes in bonbonfarbenem Plastik-Mix (Bühne: Ric Schachtebeck) angedeutet wird.

Der Trash wirkt lächerlich

Der Trash, der in Engels «Peter Grimes» so wunderbar funktionierte, wirkt hier lächerlich. Auch als Herodias den Rauch ihrer Zigarette in Jochanaans Glasgefängnis pustet und vor ihm aufreizend mit der Zunge spielt, wünschte man sich, es würde hier abstrakter gearbeitet.

Die Lichtregie setzt auf nüchterne Helligkeit. Wo Dämmerung eine magnetische Wirkung auf die menschliche Seele versprechen würde, ist es hier der Alkohol. Erotik, Sinnlichkeit, Berührung – in der Musik ist da, was auf der Bühne fehlt.

Das gross besetzte Berner Symphonieorchester (Leitung: Kevin John Edusei) glänzt in den sinfonischen Zwischenspielen mit schönen Instrumentalsoli und komplexen Rhythmen: Das regt die Fantasie an. Zwar fehlt der dunkle Klang des Heckelfons, jene für Salomes Leitmotiv konzipierte Bass­oboe.

Trotzdem wünschte man sich mehr dynamische Flexibilität, die Textverständlichkeit ist nicht immer optimal, und Salomes Stimme wird in der wenig voluminösen Mittellage vom Orchester oft zugedeckt.

Hilflose Handgirlanden

Und der Schleiertanz? So banal kann lasziv sein: Hier fehlen die sieben Schleier. Salome zieht Shorts und Jackett aus, ihre Blümchenbluse wird zum Kleidchen. Sie walzert etwas herum, öffnet die Haare. Ein paar blasse Biegungen, hilflose Handgirlanden. Es bleibt beim Versuch ohne Geheimnis, ohne Souplesse. In die Geschichte wird diese Schlüsselszene jedenfalls nicht eingehen.