Der Liebeskranke im Kurhotel

Herbert Büttiker, Der Landbote (17.01.2006)

Orlando, 15.01.2006, Zürich

Unterhaltsam und klug: Was das heutige Theater aus der Barockoper macht, überrascht immer wieder. So auch «Orlando» im Opernhaus.

Orlando ist wohl der erste Antiheld der Operngeschichte. Der Ritter ist kampfunfähig aus unglücklicher Liebe. Diese treibt ihn in den Wahnsinn: «Orlando furioso » heisst auch Ariosts Versepos, das zahlreiche Librettisten und Komponisten angeregt hat. Händel hat drei Werke auf der Grundlage der phantastisch ausufernden Verserzählung komponiert, nach «Orlando» (1732) noch «Alcina» und «Ariodante».

Auf dem Höhepunkt des Wahns schleudert der rasende Roland die untreue Geliebte Angelica in einen Abgrund, bevor er vor Erschöpfung einschläft. Aber der Magier Zoroastro hat die Höhle sogleich in einen prächtigen Marstempel verwandelt, in welchem Angelica, von Genien bewacht, unversehrt sitzt. Die Figur des Zauberers ist mit Händel neu in die Handlung gekommen: Er wacht über das Geschehen und heilt den Ritter am Ende. Die Heilkunst ist jedoch bei aller Magie die in der Barockoper übliche: Das Liebesdurcheinander tobt sich bis zur Erschöpfung aus, dann folgt die Besinnung von selbst. Orlando gibt der Verbindung Angelicas mit Medoro das Placet und besinnt sich auf seine Aufgabe, für Ruhmestaten auf dem Schlachtfeld zu sorgen.

Mit der Magie ist der Opernmoral ebenso Genüge getan wie der Schaulust des Publikums, und zu beidem haben Regisseur und Ausstatter der Zürcher Inszenierung, Jens-Daniel Herzog und Mathis Neidhardt, auf spannende Weise Eigenes zu sagen. Den wiederhergestellten Generalissimo stellen sie auf einen Sockel, wo er, nun plötzlich allein, ziemlich ratlos aussieht: ein Happy End mit Fragezeichen. Der Schauplatz zeigt statt der konventionellen Szenerien der Barockoper zwischen Hain und Palast ein Hotel oder Sanatorium in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Eine ingeniöse Bühne schafft mit beweglichen Wänden, atmosphärisch dicht und witzig im Detail, die unterschiedlichsten Raumsituationen. Überraschend zwanglos und stimmig gelingt da auch die Verpflanzung der mittelalterlichen Figuren ins Zauberberg-Milieu um 1900.

Leben im Hotel

Die neuen Rollenbilder scheinen den Darstellern geradezu auf den Leib geschrieben, und hervorragend integrieren alle ins Spiel ihre virtuose und ausgedehnte musikalische Aufgabe: Zoroastro (Günther Groissböck) ist nun der dozierende und experimentierende Halbgott in Weiss, dank griffigem und beweglichem Bass nicht ohne Frankensteinischen Einschlag. Die einfache Hirtin Dorinda (Christina Clark) ist zur Krankenschwester geworden, die sich immer mal wieder in einen der noblen Patienten verliebt, aber auch mit den damit verbundenen Frustrationen zurechtkommt: kleines Frauenschicksal, berührend in der Anmut und Leichtigkeit eines mühelosen Soprans.

Als Kurgast hält sich Angelica, vormals Königin von Cathay, im Sanatorium auf. Martina Jankova brilliert im mondänen Auftritt und mit entsprechender Verve der Koloraturen. «Wer mein Herz besitzt, kann sich ohne Hochmut König nennen», findet sie, lässt aber auch Hysterie ahnen. Vor allem paart sie den kecken Ton mit köstlicher Komödiantik, die überhaupt in dieser «Seria» nicht zu kurz kommt. Ihr Medoro, eigentlich als geheilt entlassen, findet an der Sanatoriumswelt Gefallen, wo alle Frauen um ihn buhlen. Passend für den Galan Katharina Peetz' agiler, mit fülligem Legato tadellos geführter, schöner Mezzosopran.

Orlando kommt direkt vom Schlachtfeld – einer, der nicht mehr kann. «Effeminati sentimenti» diagnostiziert der Arzt, was, nebenbei, dem Kastraten Senesini, der sich nach «Orlando» von Händel trennte, in den falschen Hals geraten sein dürfte. Für Marijana Mijanovic, eine Altstimme mit männlichem Einschlag, ist Orlando eine ideale Rolle, die sie zwischen Burn-out-Melancholie und Raserei mit breiter Ausdruckspalette gestaltet. Dass ihr Gesang im rein instrumentalen Sinne allerdings nicht nur beglückt, ist nicht wegzustecken, gedeckter, manchmal fahler Klang, flackernde, gebrochene Linie. Aber mit starker Bühnenpräsenz macht sie die musikalische Kühnheit deutlich, mit der Händel die Wahnsinnsszenen des Orlando komponiert hat.

Der sechste Protagonist

Das moderne Interesse an der Opera seria entzündet sich ja gerade dort, wo sie von ihrem Schematismus abweicht, und diesbezüglich hat Händel, hat vor allem «Orlando» vieles zu bieten, Accompagnati, orchestrale Stücke, Ariosi, Duett, Terzett und eben Szenen, die alle Konventionen sprengen: für William Christie und das Orchestra «La Scintilla» der Zürcher Oper also ein reicher Fundus für vifes und präzises Musizieren. Ein wenig droht da und dort Stagnation in der Reihe der Larghetto-Arien im zweiten Akt, aber immer ist da wieder die Initiative des Dirigenten, der mit Akzenten, dynamischem Wechsel und prägnanter musikalischer Gestik überrascht. Händels Orchester, gerühmt als der sechste Protagonist, ist da oft eindrücklich der erste.